3. Bruns-Lenel, Geschichte und Quellen des römischen Rechts. 343
Ahnlich wie der Bürgerprätor, der praetor urbanus, konnten auch die übrigen Justiz-
beamten in ihrem Kreise Edikte erlassen, so der praetor peregrinus, die Adilen und die Pro-
vinzialbeamten. Die Edikte der letzteren, die edicta provincialia, erstreckten sich jedoch bei der
vollen Verbindung von Justiz und Administration in den Provinzen in der Regel über die
ganze Provinzialverwaltung, namentlich auch das Finanzwesen 1. Im Rechte nahmen sie
die Edikte der beiden Prätoren in Rom möglichst zum Muster und wurden auf diese Weise ein
Mittel zur teilweisen Romanisierung des Rechts der Provinzialvölker.
Die Edikte bilden den Niederschlag der magistratischen Praxis. Daneben darf aber die
Bedeutung der Praxis der Richterkollegien und der Geschworenen nicht übersehen werden.
Geleitet wurde diese Praxis durch die Jurisprudenz, der ein bestimmender Einfluß sowohl durch
die gutachtliche Betätigung als auch durch die Beteiligung von Juristen an den Konsilien der
Geschworenen selbst gesichert war; nur so konnte bei dem steten Wechsel der mit der Richter-
gewalt betrauten Personen doch die Gleichmäßigkeit der Entscheidungen gewahrt bleiben. Schon
Cicero zählt die res judicatae unter den Rechtsquellen mit auf. Die Praxis des Zentumviral-
gerichtes hat insbesondere das Pflichtteilsrecht geschaffen. Die der Geschworenen macht sich
vor allem geltend in der Ausweitung des sog. okficium iudicis. Der Richter erhielt gewohn-
heitsmäßig immer mehr Freiheit, die besonderen Umstände des Einzelfalls auch dann bei seiner
Entscheidung zu berücksichtigen, wenn ihn der Prätor dazu nicht ausdrücklich anwies. Dies
führte zur genaueren Bestimmung der wichtigsten juristischen Begriffe und Verhältnisse, die
veniunt in iudicium, d. h. die für die Beurteilung und Entscheidung eines Falles maßgebend
sind: mora, culpa, Irrtum, omnis causa, bona fides usw. Uberall arbeitete hier die Wissen-
schaft dem Richter vor: ihre Ergebnisse aber wurden gerade durch die rerum iudicatarum auc-
toritas bindende Rechtsnormen.
VII. Rechtswissenschafe und Rechtsunterricht:.
§ 28. Seit dem Eintritt der Plebejer in das Pontifikalkollegium ist die Privat-
rechtskunde nicht mehr eine „Geheimwissenschaft“ und löst sich allmählich vom Ponti-
fikalkollegium ab; seit dem 7. Jahrh. d. St. fängt sie an, eine selbständige Wissenschaft zu werden.
Ihr Ausgangspunkt ist es gewesen, daß Coruncanius öffentlich Rat und Belehrung in Rechts-
sachen erteilte (§ 17). Von da an wurde dieses bald allgemein. Wer Neigung und Fähigkeit
fühlte, beschäftigte sich damit; es war ein Mittel, Ansehen und Beliebtheit beim Volke zu er-
langen. Von Scipio Nasica (191 Konsul) wird erzählt, daß er vom Senate ein Haus an der
via sacra bekommen habe, „quo facilius consuli posset“; von C. Marcius Figulus, daß er sich
dadurch für das Konsulat habe empfehlen wollen und daher, als er es nicht erlangte, die Rat-
suchenden mit den Worten abgewiesen habe: „omnes consulere scitis, Consulem facere nescitis“.
Die Tätigkeit war anfangs überwiegend praktisch, die „urbana militia respondendi cavendi
scribendi“, wie Cicero sagt (p. Mur. 19, vgl. de or. 1 212): Erteilung von Gutachten in Rechts-
streitigkeiten (respondere), Ratschläge für vorsichtige Abfassung von Rechtsgeschäften (cavere),
Sachwaltung in Prozessen (agere, postulare). Die eigentliche Führung des Prozesses wurde
wohl auch von Juristen als Anwälten übernommen, aber gewöhnlich wurde sie geschulten
Rednern übertragen; und die glänzten nicht immer durch Rechtskenntnis (Cicero, de or. 1 166,
168). So tritt das agere hinter der anderen Tätigkeit zurück und beschränkt sich auf die Ab-
fassung von Anträgen (scribere). Mit dieser praktischen Tätigkeit der Juristen hing der Rechts-
unterricht eng zusammen. Wie es keinen eigentlichen Juristenstand gab, so gab es auch keine
geordnete Einführung in die Wissenschaft, etwa durch Lehrvorträge. Vielmehr schlossen sich
die Lernbegierigen als Schüler (auditores) einem Rechtsgelehrten an und waren bei der Er-
teilung von Rat und Gutachten zu Hause und auf dem Markte anwesend (Cic. or. 142). Die
responsa werden schriftlich oder mündlich abgegeben (D. 1, 2,2, 49), doch wohl nach Verhandlung
des Rechtspunktes. Die Kenntnis der XII Tafeln brachten die jungen Leute aus der Schule
mit (§ 15). Den Inhalt des Edikts werden sie sich selbständig angeeignet haben, um den Er-
1 Ein Beispiel ist Ciceros Provinzialedikt für Cilicien. Cic. ad fam. 3, 8; ad Att. 6, 1, 15.
„: P. Jörs, Römische Rechtswissenschaft zur Zeit der Republik. 1. Bd. 1888.