J. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 31
anklebt. Und so werden diese Kinder allmählich einfach auf Alimente gesetzt oder ganz aus der
Familie herausgedrängt, und damit entsteht die zweite Anschauung von der Vaterschaft, wo-
nach der Vater als der Erzeuger des Kindes gilt. Natürlich bleibt von dem alten Gedanken
noch manches übrig, und selbst heutzutage ist er nicht vollständig verdrängt; auch heute gilt der
Satz: ist der Ehemann der mögliche Vater, so wird er als der wirkliche Vater angesehen; im
übrigen ist heutzutage der Beweis, daß er nicht der Vater sein kann, zulässig, und die Ehelich-
keit kann aus diesem Grunde angefochten werden; doch kann regelrecht nur der Ehemann an-
sechten, weil man nicht will, daß Dritte in die Ruhe der Familie eingreifen und ein Familien-
band zerreißen, das die Nächstbeteiligten erhalten wissen wollen.
Der Umschwung des Vaterrechts ist vielfach mit einer religiösen Idee verbunden; auf
der ganzen Erde findet sich die Vorstellung, daß die Seele des Kindes vor der Geburt oder un-
mittelbar nach ihr mit dem Ehemann der Mutter in eine geheime Verbindung tritt; dieser
darf von nun an gewisse Dinge nicht tun, weil man glaubt, das Kind werde dadurch geschädigt,
es komme als Mißgeburt zur Welt, es erkranke, und seine Seele entfliehe. Ist dieser Gedanke
entwickelt, dann ist zugleich das Weitere gegeben: das Kind gehört dem Ehemann, ebenso wie
es der Ehefrau gehört; es ist ihm mit Leib und Seele verbunden, nicht eigentlich, weil er der
Erzeuger, wohl aber, weil er der Ehemann der Frau ist. Doch das eine geht nun in das andere
über: auf solche Weise wird es den Naturvölkern auch verständlich, daß das Kind dem Vater
gleicht. Bei gewissen Stämmen hat sich diese Idee zu einer wundersamen Sitte, der Couvade,
verunstaltet, indem der Ehemann nach der Geburt des Kindes eine Zeitlang das Lager hüten
muß, während die Frau die Geschäfte des Hauses besorgt; denn in dieser entscheidenden Zeit
ist für den Ehemann eine ganz besondere Sorge, Enthaltsamkeit und Eingezogenheit des Lebens
notwendig, weil sonst der Organismus des Kindes geschädigt wird und das Kind dem Tode ver
fällt. Diese Sondersitte ist nichts anderes als eine etwas gewaltsame Ausbuchtung einer Vor-
stellung, die zu den allgemeinen Gedankenreihen unseres Geschlechts gehört.
§ 24. Künstliche Verwandtschaft.
Die Verwandtschaft, die nicht auf Einheit des Blutes oder der dieser Blutseinheit gleich-
gestellten Herrschaft beruht, ist von mir künstliche Verwandtschaft genannt worden.
Sie begreift Einrichtungen in sich, die noch heutzutage unsere Kulturvölker kennen, aber auch
solche, die schon längst vor dem Schritte der Kultur verschwunden sind. Die wichtigste Ge-
staltung dieser Art ist die Kindschaftsannahme oder Ankindung, auch Adop-
tion genannt. Sie beruht darauf, daß jemand, der an sich dem Blute fern steht, durch irgend-
einen Vorgang die Kindschaft erwirbt. Sie reicht in die frühesten Zeiten unseres Ge-
schlechts zurück und hat einen sehr verschiedenen Hintergrund. Nicht selten ist sie ein Überrest
der Gruppenebe, denn bei dieser gehörten die Kinder der Gruppe und wurden nach Zweck-
mäßigkeit dem einen oder anderen der zusammenlebenden Paare überlassen. Oder sie hängt
mit der Jünglingsweihe zusammen, welche eine Seelenverbindung zwischen dem Weihevater
und dem Kinde herbeiführt: wenn diese Weihe in der Adoptivfamilie vorgenommen wurde,
so lag kein Gedanke näher als der, daß das Kind die Seele mit dieser Familie teile. Daher der
nicht seltene Satz, daß die Ankindung vor der Jünglingsweihe geschehen muß und in Ver-
bindung mit der Jünglingsweihe steht; so namentlich im indischen Rechte. Aber auch im ger-
manischen Leben hängt die Ankindung durch Waffengebung oder durch Haarschur mit der Weihe
zusammen. Demselben Gedankenkreis gehört auch die Zeremonie an, daß das Kind auf den
Schoß gesetzt wird oder gar von da zur Erde gleitet, um den Geburtsvorgang zu versinmbild-
lichen, oder daß es sich der Mutter an die Brust legt (wie im Kaukasus und bei den
Etruskern). Später wird die Ankindung zu einem rein juristischen Institut, aller ihrer mystischen
Gedanken entkleidet, nicht selten dadurch gekennzeichnet, daß das Kind, wie bei den Griechen,
in die Geschlechtstafel eingetragen wird.
Der seelische Grund der Ankindung war nicht nur der natürliche Trieb, Nachkommen zu
haben; viel mächtiger war der Gedanke, daß der Adoptivsohn als Sohn verpflichtet sei, die
Totenopfer darzubringen und dadurch dem Verstorbenen Ruhe und Glück im Jenseits zu bringen.
Dieses Motiv hat die Ankindung in gleicher Weise bei den Ostasiaten (Chinesen und Japanern,