354 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts.
fragen von Beamten (relatio, consultatio) oder von Privaten (preces) durch besonderes Schreiben
(epistula) oder Randverfügungen (subscriptio, adnotatio?). Der Ausgangspunkt dieses
Reskriptenwesens war wohl, daß Beamte und Private, namentlich in der Provinz, sich an den
Kaiser um Auskunft wendeten, wie man sich sonst ein Gutachten von einem Juristen erbat.
Daher betrifft die Anfrage immer nur den Rechtspunkt. Die Partei richtet sie vor dem Be-
ginne des Prozesses an den Kaiser. Dieser entscheidet also auf einseitigen Vortrag des Tat-
bestandes, daher unter der ausdrücklichen oder stillschweigenden Bedingung: si preces veritate
nituntur (C. 1, 23, 7). Diese Voraussetzung hat der Richter zu prüfen. Die Untersuchung der
Sache gehört vor den ordentlichen Richter. Dieser ist an die Rechtsauffassung des Kaisers ge-
bunden. Dies Verfahren wird seit Hadrian immer üblicher; der Kaiser ist ja seit Feststellung
des Ediktes die viva vox iuris civilis geworden.
#Js 41. Kaiserliche Gerichtsbarkeit. Der Umfang und die Art des Ein-
flusses der kaiserlichen Verordnungen auf die Rechtsentwicklung läßt sich nur im Zusammen-
hange mit der kaiserlichen Richterstellung bestimmen. Quästionen- und Formularverfahren
blieben vorläufig als das ordentliche Verfahren bestehen. Aber 1. neben die Quästionen traten
als außerordentliche Gerichtsstände in Strafsachen Senat und Kaiser 1. Zwischen ihnen ent-
schied im allgemeinen wohl der Vorgriff (praeventio). Die Form des Verfahrens vor dem
Kaiser und den Konsuln und ihren Konsilien ist die cognitio, d. h. das obrigkeitliche Vorgehen
von Amts wegen, wenn es auch mehr und mehr an den Quästionenprozeß angeglichen wird.
Der Kaiser überträgt seine Strafgewalt an seine Gehilfen, namentlich die Legaten in den Pro-
vinzen und den praefectus urbi, zum Teil auch auf andere Präfekten und Prokuratoren. So
tritt der Stadtpräfekt neben die Quästionen; unter Teilnahme des Volkes, das der schnellen
und wirksamen Strafjustiz nachgeht, werden sie beiseite geschoben und endlich verdrängt. Zu-
gleich finden die Präfekten es angemessen, Vergehen, die bis dahin überhaupt nicht strafbar
waren, wie Diebstahl, Betrug u. dergl., nach Kognition zu ahnden (Stellionat, Abigeat usw.):
sog. Crimina extraordinaria. Auf diesem Gebiete ist der Kaiser überall höchste Instanz; seine
Weisungen also sind unbedingt maßgebend. Für die Zivilsachen ist 2. Grundsatz, daß der
Kaiser jede noch nicht in das Stadium des iudicium (s. § 26) gelangte Sache an sich ziehen und
selbst darüber entscheiden darf. Das geschieht mittels Dekrets nach gehöriger cognitio. Daß
der Kaiser Geschworene bestellt hätte, ist wenig wahrscheinlich, ein Beispiel jedenfalls nicht
überliefert. Von dieser bedeutenden Befugnis haben die Kaiser, soviel wir wissen, nur spar-
samen Gebrauch gemacht (D. 5, 2, 28; 28, 5, 93); vielleicht nur da, wo das imperium mixtum
(D. 2, 1, 3) des Prätors in Frage kam (Restitution, Mission, bonorum possessio). In ganz
ähnlicher Weise greifen die kaiserlichen Diener mit polizeilicher Hilfe ein, wenn der prätorische
Rechtsschutz versagt. So werden die Sachen an sie gebracht, die mit der öffentlichen Sicher-
heit und dem Kornhandel zusammenhängen (D. 1, 12, 2), z. B. Mietsstreitigkeiten an den prae-
fectus vigilum (D. 19, 2, 56; 20, 2, 9), Schiffsdarlehen an den praefectus annonse (D. 14, 5, 8;
14, 1, 1, 18), Straßenverbauungen an den curator vise (Paul. sent. 5, 6, 2). Viel wichtiger
ist eine andere Art des kaiserlichen Eingreifens in die Rechtspflege. Manche neu aufkommenden
Ansprüche bedürfen der Klage und neue Verhältnisse der rechtlichen Regelung, während man
sie bisher der Sitte überlassen hatte. In republikanischer Zeit griff hier der Prätor ein, und
auch in der Kaiserzeit hat ja seine produktive Tätigkeit nicht sofort aufgehört (§ 38). Aber neben
ihm macht sich jetzt die Macht des Kaisers geltend. Dieser hilft auf Grund seiner höchsten Ver-
trauensstellung und sorgt für die Verwirklichung solcher schutzwürdiger Ansprüche. Regelmäßig
handelt er indes nicht selbst. Er überweist die Fälle vielmehr an Konsuln und Prätoren zur
weiteren Veranlassung, d. h. zur Untersuchung, Entscheidung und Vollstreckung. Diese Staats-
beamten sind seine Delegaten; daher ist das Kognitionsverfahren durchgängig üblich, also ohne
Geschworene und Formel; denn es ist kein Gerichtsverfahren 3. Allmählich aber erfolgt ein
geregelter Ausbau nach dem Vorbilde des ordentlichen Prozesses. Hierher gehören: Fidei-
1 Vgl. hierzu Mommsen, Strafrecht S. 251 ff., 260 ff.
„Pernice, Volksrechtl. und amtsrechtl. Verfahren, in der Festgabe für Beseler S. 51.
* Hierüber und hiergegen neuestens Samter, Nichtförml. Gerichtsverfahren (1911).
dem ich nicht zu folgen vermag.