Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

358 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts 
wird aber den Römern überhaupt nicht gerecht, wenn man sie als Männer der Wissenschaft be- 
urteilt. Ihr unsterbliches Verdienst liegt nicht in dem, was sie für die Erkenntnis des römi- 
schen Rechts geleistet, sondern darin, daß sie das römische Recht, wenigstens das, was dauern- 
den Wert in ihm behauptet, geschaffen haben. Die Großen unter ihnen waren keine 
Theoretiker, sondern geniale Praktiker, und danach muß ihr ganzes Verfahren beurteilt werden. 
Der wissenschaftliche Forscher wird kraft inneren Triebes stets die allgemeinste Formel suchen, 
auf die sich die Einzelerscheinung zurückführen läßt; dem Praktiker aber ist Zurückhaltung in 
der Reduktion natürlich. Er weiß, wie gefährlich die Verallgemeinerung ist; warum sollte er 
das Entscheidungsprinzip allgemeiner fassen, als es das Bedürfnis des Urteils im Einzelfall 
verlangt? Der Mann der Wissenschaft empfindet das Bedürfnis, sich der Elemente der von 
ihm gebrauchten Begriffe bewußt zu werden, wird auf deren möglichst sorgfältige Analyse be- 
dacht sein. Dem Praktiker, wenigstens dem genialen, sind diese Begriffe in der Anschauung 
lebendig und werden von ihm aus dieser Anschauung heraus fest und sicher gehandhabt. Der 
Forscher muß über die Gründe seiner Entscheidung Rechenschaft geben; der Praktiker hat 
seine Aufgabe erfüllt, wenn er zutreffend entschieden hat, — Gründe gibt er nur dann, wenn 
ihn die Verhältnisse, z. B. eine Frage oder eine Gründe fordernde Prozeßordnung, dazu 
zwingen. Der Forscher wird die historische Erscheinung historisch begreifen wollen; der Prak- 
tiker lebt und webt in dem Recht der Gegenwart. Den Forscher treibt es, dem inneren Zu- 
sammenhang der gefundenen Einzelsätze nachzugehen; der Praktiker fühlt wohl auch diesen 
Zusammenhang, aber zum Bewußtsein bringt er ihn sich nur, wenn das Bedürfnis der Einzel- 
entscheidung es fordert, — die Systematik an sich ist ihm gleichgültig. 
Was wir den römischen Praktikern verdanken, das ist die Kunst der juristischen Technik, 
die Kunst, mit den Mitteln des gegebenen Rechts auch das neu auftauchende Bedürfnis zu be- 
friedigen, von festem Boden aus umsichtig weiterbauend das Gebäude des Rechts zweckmäßig 
zu erweitern, die Kunst, jedem Verhältnis des Lebens die Seiten abzusehen, die das Recht 
beachten muß, wenn es nicht zu unbilliger Starrheit kristallisieren, die es allein beachten darf, 
wenn es nicht elastischer werden will, als es das Bedürfnis des Verkehrs nach einer gesicherten 
Ordnung gestattet, — kurz, was ein römischer Jurist selbst die ars boni et aequi nannte. Von 
der Bedeutung und dem Wesen dieser Aufgabe, ja von ihrem Dasein überhaupt hatte man 
vor ihnen keine Idee, da der Begriff einer juristischen Technik überhaupt noch gar nicht im Be- 
wußtsein der Welt vorhanden war. Eine solche kann sich da nicht leicht bilden, wo die Volks- 
gemeinde selbst oder ein Ausschuß naiv nach ungeschriebenem Gewohnheitsrechte die Rechts- 
händel entscheidet. Hier ist die Rechtsweisung stets mehr oder minder Rechtsschöpfung; un- 
bewußt tritt das Gefühl an Stelle des Rechtssatzes, und es wird ein Rechtssatz für den Einzel- 
fall gefunden. In Rom aber ist von alters her der Richter wie der Beamte unter das Gesetz 
gestellt. Das ist die Folge der staatlichen und Gerichtsorganisation und vor allen Dingen der 
frühen Aufzeichnung des Landrechts. So führten das wirkliche Leben und das praktische Be- 
dürfnis die römischen Juristen von selber auf die Technik hin. Eben darum besteht ihre 
Wissenschaft auch nicht in einem Suchen nach abstrakten Prinzipien und ihrer theoretischen 
Entwicklung, sondern sie ist rein praktisch, unmittelbar durch das Leben und das praktische Be- 
dürfnis angeregt, unmittelbar auf dessen Befriedigung gerichtet. Dabei aber gehen sie nicht 
in bewußter Weise induktiv und deduktiv zu Werke, sondern sie entfalten ein so wunderbares 
Talent der unbewußten, naiven Produktion, daß sie einzig und unerreicht dastehen. Sie haben 
gewissermaßen die schöpferische Kunst des Rechts, der die erklärende Theorie erst nachfolgt. 
Jeder Fall, jedes Verhältnis erscheint ihnen sofort im Lichte der maßgebenden Rechtssätze, 
und mit fast unfehlbarer Sicherheit treffen sie die Entscheidung der entstandenen Rechtsfrage. 
Das Prinzip mit seinen Folgen steht fest vor ihrem Auge, aber nur in unmittelbarer Intuition; 
es abstrakt scharf auszusprechen, im Grunde genau darzulegen, halten sie einerseits nicht für 
nötig, sind aber andererseits auch nicht fähig dazu. Sie geben oft geradezu falsche Gründe, 
und wenn sie Prinzipien und Begriffe abstrakt bestimmen und entwickeln wollen, gehen sie 
leicht fehl oder werden trivial und verfallen sofort wieder in die Einzelentscheidungen. Die 
Philosophie der Zeit ist ihnen vertraut, und in einer beträchtlichen Zahl von Lehren 
machen sich nicht nur ihre Terminologie, sondern — nicht zum Vorteil der Sache — 
auch ihre Theoreme, insbesondere die der stoischen und der aristotelischen Schule,
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.