3. Bruns-Lenel, Geschichte und Quellen des römischen Rechts. 359
geltend 1, z. B. in der vom error in substantia (D. 18, 1, 9, 2), von der Spezifikation (D. 41,
1, 7, 7), von den Bestandteilen (D. 41, 3, 30); beherrschenden Einfluß auf die ganze Methode
übt sie nicht.
Ihre Wissenschaft bleibt hiernach wesentlich kasuistisch, auch ihre Kommentare und
Systeme sind kasuistisch, aber es ist nicht jene spitzfindige scholastische Kasuistik, die sich darin
gefällt, möglichst sonderbare und paradoxe Kombinationen zu lösen, sondern eine lebendig-
praktische, die nur den Reichtum und die Mannigfaltigkeit des wirklichen Lebens zu erfassen
und zu beherrschen bestrebt sst.
Fragt man nach dem inneren Werte der Ergebnisse der römischen Rechtswissenschaft, so
ist es eine einst weit verbreitete Ansicht, daß sie die Entwicklung des reinen Naturrechts ent-
halte. In gewissem Sinne ist dies richtig. Die römischen Juristen der klassischen Zeit haben
in der Tat dem Rechte vielfach die nationalen Besonderheiten abgestreift und es zum Welt-
rechte ausgeweitet. Noch mehr sieht das so aus in der Justinianischen Kompilation; denn
hier ist eine große Anzahl in klassischer Zeit noch durchaus gebräuchlicher nationaler Institute
grundsätzlich beseitigt (Manzipation, Fiducia, Sponsion und Fidepromission, Adstipulation).
Auch verstärken die Juristen den Anschein, als bauten sie die Dinge wirklich rein aus der Natur
der Sache auf, durch zwei Eigentümlichkeiten. Sie bezeichnen einmal manche Institute (wie
Tradition, Okkupation, Alluvion) und einzelne Rechtssätze (superficies solo cedit) als natur-
gemäße (naturalis ratio, naturale ius), sie setzen sie dem ius civile entgegen und übertreiben
ihre Lehre sogar dahin, daß civilis ratio naturalia jura corrumpere non potest (D. 7, 1, 45;
43, 16, 1, 27;79, 2, 50; 50, 16, 42; 4, 5, 8; Gaius II 66, 69 sq.; Ulpian. 28, 9). In ähn-
licher Weise handhaben die Juristen auch die aequitas: sie reicht bei ihnen über die „Billigkeit"
hinaus und verschwimmt manchmal geradezu mit dem Naturrecht (D. 38, 8, 2; 41, 1, 9, 3;
49, 15, 19 pr.). Mit der aequitas werden nicht nur Einzelentscheidungen bequem begründet
(D. 18, 4, 2, 3), sondern auch zivile und prätorische Rechtsinstitute innerlich gerechtfertigt
(D. 12, 6, 14 und 66; Gaius IV 71. 75), ja sie wird den Juristen zu einem höheren Maßstabe,
nach dem sie das bürgerliche Recht kritisch beurteilen (D. 2, 14, 7, 10; 15, 1, 32 pr.; 44, 4,
1, 1). Wenn man hierin Naturrecht sehen will, so ist dieses allerdings im römischen Rechte
vielfach enthalten. Indes ist man sich heute allgemein darüber klar, daß diese Auffassung dem
Reichtume des Rechtslebens an Bildungen und Begriffen in keiner Weise genugtut: eine anders-
artige Entfaltung der sozialen Verhältnisse, als das römische Leben sie hatte, mußte notwendig
eine andere Auffassung und Gestaltung der Rechtsverhältnisse und andere Rechtsbegriffe her-
vorrufen. Eben darum kann man den Wert der römischen Auffassungen auch nicht in ihrer
absoluten Zweckmäßigkeit für die Lebensverhältnisse finden. Denn diese unterliegt bei ver-
änderten Grundlagen des sozialen Lebens, wie sie bei uns eingetreten sind, vielfach ganz
anderen neuen Anforderungen, denen die römischen Bestimmungen keineswegs immer ent-
sprechen. Aber an den römischen Mustern haben wir gelernt, mit den Mitteln unseres
Rechtes den Forderungen des modernen Lebens gerecht zu werden. Ihre Kasuistik beruht
nie auf einem bloßen allgemeinen Rechtsgefühle, sondern sie operieren stets zunächst mit ge-
nauer Scheidung der verschiedenen rechtlichen Elemente, Rücksichten und Standpunkte, die
in einem Verhältnisse liegen, und erreichen das Resultat dann durch konsequente Verfolgung
und entsprechende Verbindung. Nicht unpassend nannte Leibniz dies ein Rechnen mit Be-
griffen; diesem Verfahren verdanken wir die scharfe Gliederung des Rechtssystems bis in seine
feinsten Elemente hinein, die durch das römische Recht die Grundlage unserer Wissenschaft ge-
worden ist. Rücksichtslos durchgeführt würde dies Verfahren freilich zu starrem Begriffs-
formalismus führen, und an Beispielen dafür fehlt es auch bei den Römern nicht. Aber vor
dieser Klippe schützt sie doch in der Regel ihr gesunder Sinn für das Billige und Zweckmäßige;
eine Entscheidung, die vor diesem Tribunal nicht standhält, nehmen sie keinen Anstand ent-
sprechend zu korrigieren. Sie fühlen sich schließlich eben doch nicht als Mathematiker des
Rechts, sondern als Männer des praktischen Lebens. In dieser Beherrschung der juristischen
Technik stehen sich im wesentlichen alle römischen Juristen gleich, sie sind in dieser Beziehung,
freilich nur in dieser, bei aller individuellen Verschiedenheit doch, wie Savigny einmal sagt,
1 Hierzu: Sokolowski, Die Philosophie im Privatrecht. 2 Bde. 1902. 1907.