Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

J. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 33 
gelten als Milchgeschwister und stehen miteinander in Verwandtschaft. Die einzige Folge in 
der Islamwelt ist das Eheverbot; dieses geht in der Milchverwandtschaft ebenso weit wie in 
der Blutsverwandtschaft; die auf solche Weise entstandene Verwandtschaft zwischen verschiedenen 
Säuglingen derselben Amme versagt also den Milchgeschwistern späterhin die gegenseitige Ehe — 
eine sehr mißliche Einrichtung, die in den Islamländern große Störung anrichtet. Außerhalb 
der Islamwelt findet sich die Einrichtung selten. 
Eine andere künstliche Verwandtschaft ist die Verwandtschaft mit dem Pflegevater 
und dem Lehrerz; sie hängt mit dem Ankindungsverhältnis insofern zusammen, als auch sie 
auf die Jünglingsweihe zurückweist: der geweihte Jüngling steht von selber in einer Art Ver- 
wandtschaftsverhältnis zum Weihevater, und so entsteht in Indien eine Verwandtschaft zwischen 
dem Brahmanen und seinem Zögling, in der Christenwelt eine Verwandtschaft zwischen Paten 
und Täufling, die dereinst eine große Rolle spielte und noch heute bei den Balkanvölkern 
ein wichtiges Ehehindernis bildet. 
6) Erbrecht. 
§ 25. Allgemeines 1. 
Stirbt die einzelne Persönlichkeit, so ist ursprünglich für das individuelle Vermögen kein 
Raum mehr; denm lediglich die einzelne Person ist es, zu deren Gunsten Vermögensstücke aus 
der Allgemeinheit ausgeschieden waren; die Individualisation war einzelhaft, darum zeitweise; 
sie hört auf. Doch hier baut sich die zweite Stufe der Individualisation auf: das Vermögen bleibt 
individuell, es kommt wieder an Einzelwesen: man scheut sich mehr und mehr vor dem Gesamt- 
vermögen und will womöglich das Einzelvermögen fördern. Auf diese Weise hat sich das Erb- 
recht entwickelt. Es setzt also zwei Stufen der Individualisation voraus: die eine, welche über- 
haupt Vermögensstücke aus der Allgemeinheit ausscheidet, und die andere, welche dahin drängt, 
diese Ausscheidung noch nach dem Tode des Berechtigten fortdauern zu lassen. 
Die Personen, an welche das Vermögen fallen soll, werden aus dem Kreise der Familie 
ausgewählt; bald ist es ein Einzelner, bald mehrere. Die Art der Wahl wird eine sehr mannig- 
faltige sein, da hierbei die verschiedenartigsten Interessen mitwirken können: Interessen des 
Totenopfers, Interessen der Erhaltung des Familienvermögens, Interessen der Wahrung der 
Gütereinheit und schließlich Interessen des näheren Hausverbandes, in dem der Erblasser 
gelebt hat, und von dem man annimmt, daß er in innigerem Vereine mit ihm steht als die übrigen 
Familienmitglieder. 
Es war daher nichts irriger, als wenn das Naturrecht ein für allemal gewisse Erben als 
die natürlichen bezeichnen wollte, und wenn man z. B. Einrichtungen wie Majorat oder Minorat 
einfach als ungerecht zu bannen suchte. Der Drang der Entwicklung geht zunächst nur dahin, 
das Vermögen als Einzelvermögen bestehen zu lassen; die Auswahl der Einzelerben ist eine 
Sache, die den verschiedensten Rücksichten unterstellt werden kann. Aufgabe des Gesetzes ist 
es nun, gerade die wichtigsten und durchgreifendsten Rücksichten zu wahren, und tut es dies nicht, 
so ist es eben ungerecht. 
Dabei gibt es Völker, welche in der ersten Linie der Erben stehen geblieben sind; dies 
waren beim Mutterrecht die Neffen, beim Vaterrecht die Söhne; und wenn derartige 
Familienglieder fehlten, so schuf man sie künstlich. Dies ist insbesondere der Zug des 
ostasiatischen Rechts: Chinesen, Japaner und Koreaner haben eigentlich nur eine Erbfolge der 
Abkömmlinge; und sind keine Abkömmlinge vorhanden, so muß durch Kindesannahme geholfen 
werden; nötigenfalls geschieht eine Ankindung nach dem Tode, wobei sich dann allerdings über 
die Auswahl der Person gewisse Regeln bildeten, die man aufrechterhält, wenn nicht besondere 
Gründe entgegenstehen. Diesen Typus des Erbrechts wahrt auch noch das heutige japanische 
Zivilgesetzbuch in bezug auf die Hauserbfolge. 
Andere Rechte gehen weiter und lassen in Ermangelung von Abkömmlingen sonstige Ver- 
wandte zur Erbschaft gelangen. Hierbei haben sich insbesondere zwei Systeme entwickelt: das 
System der Gradesnähe und das System der Parentelerbfolge. Daneben gibt es noch mehr 
1 Lehrbuch der Rechtsphil. S. 132 f., Einführung in die Rechtswissenschaft S. 106. 
Encyklopädie der Rechtswissenschaft. 7. der Neubearb. 2. Aufl. Band I. 9
	        
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