34 I. Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte.
oder minder regellose Mischsysteme. Die Gradesnähe geht nicht auf die Organisation der
Familie zurück, sondern mißt nur die Stufenfolge, die man vom Erben bis zum Erblasser durch-
laufen muß; sie läßt die Anzahl der Glieder entscheiden, welche dazwischen stehen, und durch
die hindurch der Weg zum Erblasser gefunden wird. Ganz anders die Parentelerbfolge: sie geht
von der organischen Familienbetrachtung aus: jeder bildet mit seinen Abkömmlingen eine Ord-
nung; eine zweite Ordnung bildet der Vater mit seinen Abkömmlingen, eine dritte der Groß-
vater mit seinen Abkömmlingen usw. So schreitet man von Stufe zu Stufe aufwärts, organisch
die Entwicklung der Familien verfolgend: zuerst die Erben der ersten, dann die der zweiten,
danm der dritten Ordnung usw., so daß eine Schicht nach der anderen zur Hebung kommt. Aller-
dings gehört, wer in der ersten Parentel ist, zugleich zu den Verwandten, welche die zweite
Parentel bilden usw.; es gilt aber das Gesetz, daß sie in die erste Parentel gerechnet werden,
und die zweite Parentel besteht nur aus den Personen, die nicht in die erste Parentel
fallen usw.
Der Gedanke der Parentelfolge hat sich auf den verschiedensten Gebieten unseres Erd-
balls unabhängig gebildet. Wir finden ihn besonders im Rechte der Hindus und im Rechte
der Germanen und Kelten; ferner im Rechte der Juden und der Araber, und auch bei
anderen Völkern lassen sich mindestens Außerungen dieses Gedankens nachweisen.
Sehr wichtig ist hierbei die Frage, ob nach Stämmen oder Köpfen geerbt wird, welche
Frage man so zu stellen pflegt, ob das sogenannte Repräsentationsrecht gilt. Die Frage tritt
in zwei Vorkommnissen auf: Möglicherweise ist ein Sohn und ein Enkel vom anderen Sohn
vorhanden, während dieser andere Sohn gestorben ist; es fragt sich, ob der vorhandene Sohn
den Enkel des anderen Stammes ausschließt, oder ob Enkel und Sohn zusammen erben.
Letzterenfalls sagt man, daß der Enkel den Sohn, von dem er stammt, repräsentiere
oder an dessen Stelle trete — eine Redeweise, die allerdings nicht ganz zutreffend ist,
aber den richtigen Gedanken volkstümlich bezeichnet. Richtiger ist es, von Stammes-
erbfolge im Gegensatz zur Einzelerbfolge zu sprechen. Manche Rechte haben sich gegen dieses
Eintrittsrecht sehr lange gesträubt; der Islam noch heute; in deutschen Rechten gehörte eine
lange Entwicklung dazu, um es durchzusetzen, indem früher der Satz galt: näher dem Blut,
näher dem Gut.
Die zweite Erbgestaltung, in der das Prinzip der Stammeserbfolge auftritt, ist folgende:
Die Erben sind vom nämlichen Grade. Es sind z. B. 6 Enkel von einem Sohn vorhanden und
2 Enkel vom anderen Sohn; die Söhne sind beide gestorben, und die Frage erhebt sich, ob
die Enkel nach Köpfen erben, oder ob auch hier die Familienorganisation durchdringt und das
Erbe in zwei Teile geteilt wird, die eine Hälfte unter die 6, die andere unter die 2. In dieser
Anwendung hatte das Eintrittsrecht noch viel größere Kämpfe zu bestehen; manche Gesetze,
die es in der anderen Verbindung kennen, verneinen es hier. Unsere modernen, deutschen und
romanischen Rechte haben ihm auch hier den Vorzug zuerkannt, von der Anschauung ausgehend,
daß die den Enkeln in der Familie zum voraus zugewiesene Stellung durch den frühzeitigen
Tod der Söhne nicht geändert werden solle. Wären die Söhne am Leben geblieben, so hätten
ja in der Regel die jeweiligen Enkel (durch die Söhne hindurch) je die Hälfte des Vermögens
erlangt; es sind nun keine genügenden Gründe vorhanden, eine völlig andere Teilung ein-
treten zu lassen, wenn die Söhne verstorben sind und die Enkel unmittelbar erben, so daß in
diesem Fall die 2 Enkel, die sonst je ein Viertel des Vermögens bekämen, auf je ein Achtel be-
schränkt würden. Das deutsche Recht allerdings hat sich sehr lange dagegen gesträubt und den
Grundsatz aufgestellt: „So viel Mund, so viel Pfund.“
Eine davon unabhängige Frage ist es, wie weit die Vermögensfolge überhaupt durch-
zuführen ist, und ob insbesondere die Grundsätze der Stammeserbfolge in infinitum gelten.
Unser Bürgerliches Gesetzbuch gestattet die Parentelerbfolge in infinitum, läßt aber von der
Parentel der Urgroßeltern an nicht mehr Stammeserbfolge, sondern Einzelerbfolge nach Grades-
nähe eintreten. Das Schweizer Gesetzbuch läßt in der großelterlichen Parentel das Erbrecht
erlöschen und gibt den Urgroßeltern und ihren Kindern nur noch beschränkte Rechte. Auch das
geht zu weit. Das Erbrecht in der Parentel der Eltern würde im allgemeinen genügen;
Erbrecht zwischen Onkel und Neffen, Tante und Nichte ist das letzte, das sich recht-