3. Bruns-Lenel, Geschichte und Quellen des römischen Rechts. 377
Volkstums zu Ende, nachdem sie schon in der Zeit der Severe stark abgenommen hatte; statt
der Jurisprudenz zieht jetzt die Theologie die begabteren Geister an. Sogar die Erteilung von
Gutachten hört auf, und das ius respondendi verschwindet (Inst. 1, 2, 8). Die Epigonen zehren
von den Schätzen der klassischen Jurisprudenz und suchen die Schriften durch Bearbeitungen
und Erläuterungen zugänglich zu machen. Die Praxis behandelt die Werke der alten Juristen
geradezu als jus: man beruft sich darauf wie auf geschriebenes Recht. Die alten Gesetze, Edikte,
Senatsschlüsse brauchte man gar nicht mehr, in den Kommentaren stand ja alles bequemer,
besser und deutlicher. Mit der Einstimmigkeit, die Hadrian verlangt hatte, nahm man es natürlich
nicht genau, wer hätte sie auch genau untersuchen können? Schwierigkeiten und Streit waren
doch genug da. Gesetzlich war der Zustand nicht; da die Kaiser ihn aber nicht ändern konnten,
suchten sie durch willkürliche Eingriffe zu helfen 1. Constantin „schaffte“ die kritischen notae
des Ulpian und Paulus zu Papinian „ab“ (aboleri praecipimus), so daß Papinians Meinung
„galt“ (C. Th.9, 43, 1 pr.); er bestätigte die sententiae des Paulus: sie sollten unzweifelhaft gelten,
wenn sie vor Gericht vorgelegt würden — in iudicüs prolatos valere (sententiarum libros)
minime dubitatur. Weiter griffen durch ein Gesetz vom Jahre 426, das sog. Zitiergesetz,
Theodos lII. und Valentinian III. Es wurde nicht mehr Einstimmicgkeit verlangt,
sondern schon der Majorität die Gesetzeskraft beigelegt, bei Stimmengleichheit sollte Papinian
entscheiden. Zugleich wurde bestimmt, welche Schriftsteller angeführt werden durften, was
vielfach zweifelhaft war. Fünf werden genannt: Gaius (der hier nachträglich offiziell
den privilegierten Juristen gleichgestellt wird), Papinian, Ulpian, Paulus und
Modestinus, der letzte, ein unbedeutender Schüler Ulpians, offenbar nur, weil er zu den
letzten der großen Zeit gehörte. Alles, was sie geschrieben haben, darf angeführt werden, mit
Ausnahme der tadelnden Noten von Ulpian und Paulus zu Papinian, außerdem
aber auch die Schriften aller der Juristen, die von jenen Fünfen irgendwo zitiert worden sind,
d. h. in der Hauptsache derjenigen, die das ius respondendi gehabt hatten, denn andere pflegten,
von wenigen Ausnahmen (z. B. Pomponius) abgesehen, nicht zitiert zu werden. Selbst-
verständlich hatte, wer sich auf Schriften der letzteren Kategorie berief, das angezogene Werk
und Buch genau anzugeben; die Richtigkeit dieser seiner Angabe aber mußte er — was bei den
viel leichter erreichbaren Werken der fünf genannten Juristen nicht gefordert wurde — durch
Vorlage von Handschriften des zitierten Werkes bekräftigen 2.
Das Gesetz war gut gemeint, dürfte aber schwerlich dazu geführt haben, den Umfang der
Literaturbenutzung erheblich zu erweitern. Die unteren Gerichte jedenfalls und die Advokaten,
die dort tätig waren, werden sich auch in der Folgezeit mit sehr wenig Büchern begnügt haben:
Gaius' Institutionen und Paulus’ Sentenzen reichten in der Regel aus. In der Reihe
von Gutachten eines Juristen des 5. Jahrhunderts, die zufällig auf uns gekommen ist und bei
uns consultatio ijuris consulti cuinscaam genannt wird, sind neben den Kaisergesetzen einfach
immer nur Pauli sententiae zitiert (§ 66 III). In den römischen Gesetzbüchern der Goten und
Burgunder sind auch nur diese sententiae und Gaius' Institutionen benutzt.
1 UFl. Cod. Theodos. 1, 4, 1—3. Puchta, Über das sogenannte Zitiergesetz v. J. 426
(Kleine zivilist. Schriften S. 284): Sanio, Über die sogenannten Zitiergesetze von Konstantin
und Valentinian (Rechtshistorische Abhandlungen und Studien (1845) I1 1).
So verstehe ich die vielbestrittenen Worte des Zitiergesetzes (vugl. über sie u. a. Krüger,
Gesch. der Rechtsquellen S. 263, A. Pernice in den früheren Auflagen dieser Enzyklopädie,
neuerdings noch Conrat, Mél. Fitting 1 p. 317 ss.); si tamen eorum lbri propter antiquitatis
incertum codicum collatione firmentur. Danach würden die, insbesondere bei den späteren
Klassikern, so häufigen Schriftstellerzitate (Sabino et Cassio placuit, et ita Celsus scribit, Pom-
onius refert Aristonem putare u. ähnl.) bei der Stimmenzählung ganz außer Betracht geblieben
fein — Schriften, die wie Gesetze galten, mußten auch wie Gesetze genau angeführt werden —,
und Zweck der ganzen Bestimmung wäre gewesen, dem Gericht und der Gegenpartei die Kon-
trolle der angezogenen Stelle durch Einsicht des Originaltextes zu ermöglichen. Hiergegen darf
man nicht einwenden, daß eine solche Kontrolle gar nicht möglich gewesen sei, da ja die inter-
pretatio melbe: Scaevola Sabinus lulianus atdue Marcellus in suis corporibus non inveniuntur.
Gewiß, die meisten Gerichte und Advokaten werden Handschriften dieser älteren Juristen in der
Tat nicht besessen haben. Aber in den Bibliotheken der Hauptstädte und der Rechtsschulen gab
es solche Handschriften im 5. Jahrhundert so gut wie zur Zeit Justinians, und das Gesetz läßt an-
nehmen, daß dies seinen Verfassern wohlbekannt war. Mit dem Gesetzeswortlaut (si 1libri
firmentur) scheint mir die obige Deutung besser zu stimmen als jede andere.