Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

390 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts. 
alten Rechte fortbestehen:. Der Gedanke der Personalität des Rechtes ist dabei ohne alle Be- 
deutung gewesen. Denn der Grundsatz, daß jeder nach seinem angeborenen Rechte leben und 
beurteilt werden müsse, hat sich erst im fränkischen Reiche und zunächst nur für die darin ver- 
einigten germanischen Stämme herausgebildet. Den Römern gegenüber ist bei keinem der 
erobernden Stämme auch nur die Frage aufgeworfen, ob sie zur germanischen Rechtsgemein- 
schaft zugelassen werden sollten. Das römische Recht wird nicht geduldet, wie das jüdische, 
sondern anerkannt. Es blieb für die Römer unter sich gültig, wie man auch das Recht unter- 
worfener germanischer Stämme unberührt ließ; aber man wandte germanisches Recht an, 
wo Römer und Germanen stritten. Das römische Recht hielt sich nur, wo die Römer dicht zu- 
sammensaßen, auch dort entfernte es sich unter dem Einflusse des Vulgarrechts (§ 32) vom ur- 
sprünglichen und erfuhr Wandlungen durch germanische Einwirkung. Umgekehrt beeinflußte 
auch das römische Recht das germanische, so daß sich allmählich eine Mischung vollzog. 
In dem Augenblicke, wo die germanischen Stämme sich endgültig auf römischem Boden 
ansiedeln oder in dauernde Beziehung zu den Römern treten, empfinden sie das Bedürfnis, 
das eigene Recht aufzuzeichnen: Westgoten, Burgunder, Langobarden, Sal- und ribuarische 
Franken; im inneren Deutschland wird das Recht nicht aufgeschrieben, weil der Gegensatz 
fehlt. Zugleich aber wird den unterworfenen Römern durch eine Aufzeichnung des römischen 
Rechtes geholfen: denn die Römer wissen die Fülle ihres Rechtsstoffes nicht mehr zu bewältigen. 
Die leges Romanae haben also dieselbe praktische Bedeutung wie die codices und das Zitiergesetz. 
#§72. Leges Romanae. Im einzelnen gestaltete sich die Fortdauer des römischen 
Rechts bei den einzelnen Völkern verschieden: 
1. Im Westgotenreiche lebten Goten und Römer bis zur Mitte des 7. Jahr- 
hunderts nach gesondertem Rechte. Aber erst 100 Jahre nach der Gründung, und nachdem 
wahrscheinlich von Eurich (466) das gotische Recht unter starkem römischem Einflusse aufgezeichnet 
war, gab Alarich II. (506) seinen römischen Untertanen ein eigenes Gesetzbuch, lexysRRomana 
Visigothorum, das sog. breviarium Alaricianum 2. Vielleicht bestimmten äußere Verhält- 
nisse, der drohende Krieg mit den katholischen Franken, den arianischen König zu diesem Ent- 
gegenkommen. Die Verfasser waren zweifellos Römer. Sie haben das damals geltende 
römische Recht, ius und leges, kompiliert, indem sie die hauptsächlich für beide benutzten Werke 
in Auszügen nebeneinanderstellten. Das ius sind die zu zwei Büchern verkürzten Institutionen 
des Gaius (5852, 1), die sententiae (receptae) von Paulus, diese i. d. R. wörtlich, aber mit großen 
Auslassungen3, und eine Stelle von Papinian. Als leges ist der codex Theodosianus mit den 
Novellen ausgenommen, aber auf ein Sechstel reduziert, dazu 22 Stellen aus dem Gregorianus 
und zwei aus dem Hermogenianus. Dem Ganzen, mit Ausnahme des Gaius, wurde eine amt- 
liche, wissenschaftlich wertlose, dennoch aber für uns in mancher Richtung lehrreiche „inter- 
pretatio“ beigefügt 4. Das Werk ist allerdings eine dürftige und rohe Zusammenstellung, allein 
es entsprach den damaligen Bedürfnissen und Kräften, gewann daher weite Verbreitung und 
hat nicht wenig zur Erhaltung des römischen Rechts im Mittelalter beigetragen. Im spanischen 
Westgotenreiche selbst wurde es zwar im 7. Jahrhundert durch die neue lex Visigothorum, die 
das römische und gotische Recht vereinigte, aufgehoben; in Südfrankreich blieb es aber unter 
der fränkischen Herrschaft, wurde auch im Norden verbreitet und ist erst im 12. Jahrhundert durch 
1 Die Fortdauer des römischen Rechts in den germanischen Reichen ist zuerst von Savigny 
im ersten und zweiten Bande seiner Geschichte (S. 389 N. 6) nachgewiesen. Eine vollständigere Dar- 
stellung der Rechtszustände in diesen Staaten gibt: Bethmann-Hollweg, Der Zivil- 
prozeß des gem. Rechts in geschichtl. Entwicklung. Bd. 4 (1868). Brunner, Deutsche Rechts- 
geschichte. 2. Aufl. 1 S. 377 ff. A. v. Halban, Das röm. Recht in den germanischen Bolks- 
staaten. 3 Bde. 1899. 1901. 1907. 
* Ein offizieller Titel findet sich in den Handschriften nicht. Breviarium bedeutet Auszug 
und wird in den Handschriften sowohl für das Gesetz selber als für die Auszüge gebraucht. Modern 
ist die Bezeichnung lex Romana Visigothorum. 
* Vgl. Conrat, Der westgoth. Paulus (1907) S. 4 ff. 
Streitig ist, ob die interpretatio nicht mindestens zu einem großen Teile älteren römischen 
Schulschriften entnommen — Fitting, 3R. XI S. 228 ff. — oder ob sie selbständig von 
den Redaktoren des Breviars verfaßt ist (Gommasen, praef. zu seiner Ausg. des Theodosianus 
p. XXXV, Conrat, Die Entstehung des westgot. Gaius S. 100, der westgot. Paulus S. 241 ff. 
Dazu Kalb, Jahresbericht, Bd. 134 S. 121 f.).
	        
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