Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

392 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts. 
behalten. Die Goten sind angesiedelte Soldaten, im römischen Sinne Peregrinen. Darum 
leben sie unter sich nach ihrem eigenen Rechte, sowie die Römer nach ihrem. Zivilstreitigkeiten 
zwischen Römern und Goten werden vom Militärgerichte, also vom gotischen comes, unter 
Zuziehung eines römischen Assessors entschieden; dabei wird wohl auch römisches Recht zur 
Anwendung gekommen sein 1. Aus diesem staatsrechtlichen Zustande ertlärt sich das edictum 
Theoderici. Es ist keine lex; denn der König nahm formell das Gesetzgebungerecht nicht in 
Anspruch. Uber die Zeit seiner Erlassung besteht Streit; sie fällt jedenfalls nach 493 und wahr- 
scheinlich nicht nach 507 2. Es behandelt in 155 Kapiteln privat= und strafrechtliche Punkte ohne 
ersichtliche Ordnung auf Grund des römischen Rechts (der drei codices, des Paulus, der inter- 
pretatio); es finden sich aber auch neue Sätze. Es ist eine Eröffnung an beide Völker und be- 
trifft die Abstellung von Ubelständen, die bei beiden sich fanden: es gilt unzweifelhaft für beide 2. 
5. Im schärfsten Gegensatze hierzu stehen die Langobarden. Das kleine Volk, 
voll „Kampflust und Wagemuts“ (Tacit. Germ. 40), hat zäh und treu wie kaum ein anderer 
Stamm sein Recht bewahrt. Als die Langobarden (568) sich zu Herren von Oberitalien machten, 
haben sie die römischen Verwaltungseinrichtungen vollständig beseitigt und die Römer als 
unterjochtes Volk behandelt. Staatsrechtlich und in den Beziehungen zu den Langobarden 
kommt deshalb auch für die Römer germanisches Recht zur Anwendung. Im Verkehre der 
Römer unter sich und vielleicht im Familien- und Erbrechte wird das römische Recht weiter- 
gegolten haben. Bis zur Mitte des 7. Jahrhunderts (edictum Rotharis) ist das langobardische 
Recht seinerseits von römischem Einflusse ganz frei. Erst mit der Ausdehnung und Befestigung 
des Reiches wird eine übrigens nicht sehr weitgehende Einwirkung, namentlich im Urkunden- 
wesen, bemerkbar. Als es Karl dem Großen im Bunde mit dem Papste gelungen war, die 
Langobarden zu unterwerfen, galt auch für die Römer der fränkische Grundsatz der Personalität 
des Rechtes. Gleichwohl ist im langobardischen Italien das römische Recht gegenüber dem 
langobardischen in der Anwendung sehr zurückgetreten. 
6. Ecclesia vivit lege Romana, d. h. die Kirche als Anstalt wird nach römischem Rechte 
beurteilt (nicht der einzelne Geistliche). Dieser Satz gilt schon in den ältesten Volksrechten der 
Germanen (I. Rib. 58, 1) und scheint nie angefochten worden zu sein. Der Grund ist, daß die 
katholische Kirche eine aus dem römischen Reiche übernommene und aufrechterhaltene Ein- 
richtung ist. Daher findet sich das römische Recht in den kirchenrechtlichen Schriften, Ent- 
scheidungen, Bestimmungen und Sammlungen aller Zeiten stets als unzweifelhaft geltend 
vorausgesetzt. Quellen waren dafür bis zur Glossatorenzeit (s. 9§ 74) in Frankreich das Bre- 
viarium, in Italien Auszüge aus Kodex und Novellen (hier die epitome luliani), weniger an- 
scheinend die Institutionen, gar nicht die Digesten. Das Nähere darüber gehört in die Geschichte 
des Kirchenrechts. 
II. Die Wissenschaft. 
§# 73. Das frühere Mittelalter. In Italien war Justinians Gesetzbuch 
nach der Eroberung des ostgotischen Reiches eingeführt worden. Es wurde hier sofort Gegenstand 
einer Art wissenschaftlicher Behandlung. Die sog. Turiner Institutionenglosse, d. h. kurze auf 
den Rand einer Institutionenhandschrift geschriebene Erläuterungen, fällt wohl noch unter 
Justinian". Sie zeigt Berührung mit der griechischen Wissenschaft, vielleicht wegen 
Gleichheit der Quellen; später wurde sie durch Zutaten vermehrt. Weiter bekunden die Be- 
schäftigung mit den Rechtsbüchern die summa Perusina, ein Kodexauszug, der unter Benutzung 
älterer Arbeiten etwa im 9. Jahrhundert entstanden sein mag, die Pistojeser Scholien zum ver- 
kürzten Kodex s und andere ähnliche Arbeiten. Kodex, Novellen und Institutionen, erstere 
1 Mommsen, Ostgotische Studien. I. II. (Neues Archiv der Gesellschaft für ältere 
deutsche Geschichtskunde XIV.) 
„: Bgl. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Aufl., 1 S. 527 ff. 
* Vgl. L. Hartmann, Gesch. Italiens im Mittelalter 1 S. 117 f. 
* Herausgegeben von Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter 1I S. 429; 
unter Ausscheidung der jüngeren Zutaten von Krüger, ZRG. VII S. 44. Fitting, Über 
die sog. Turiner Institutionenglosse. 1870. Conrat, Gesch. der Quell. u. Lit. S. 102 ff. 
Ausgabe der Summa von Patetta, Bull. XII. Chiappelli, La glossa Pistoiese. 
1885. Fitting und Chiappelli, 8R6. XXI S. 86 ff. Conrat, a. a. O. S. 182ff., 168ff.
	        
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