3. Bruns-Lenel, Geschichte und Quellen des römischen Rechts. 393
in Auszügen, werden vielfach benutzt, während die Pandekten vollständig verschwinden. In
Frankreich blieb eine Überlieferung des vorjustinianischen Rechtes, die sich an das Breviar an-
schloß, in fränkischer und kapetingischer Zeit bestehen; Abschriften der collatio und der Regeln
Ulpians sind noch im 9. und 10. Jahrhundert gemacht worden. ÜUberhaupt hat man in der
frühmittelalterlichen Zeit, die wir bis etwa 1100 rechnen, in Italien und Frankreich niemals
ganz aufgehört, sich mit dem römischen Rechte zu beschäftigen, wobei freilich drei Fragen übrig
bleiben, über die man auf das lebhafteste streitet 1: wie ausgedehnt und gründlich der Rechts-
unterricht war, wie hoch die schriftstellerischen Arbeiten zu schätzen sind, ob und wieweit sie nach
Methode und Inhalt den Glossatoren (5 74) als Vorbild und Grundlage gedient haben.
Der Rechtsunterricht bildete in den Schulen der artes liberales ein Anhängsel der Rhetorik
und Dialektik. Dieser für Knaben bestimmte Unterricht mußte sich, ganz abgesehen von der
Unkunde der Lehrer, selbstverständlich in den engsten Grenzen halten. So wurde das römische
Recht in vielen Städten Italiens mit dürftigem Erfolge gelehrt. Weitere Rechtskenntnisse
vermittelte die Praxis in den Schreibstuben der causidici 2. Höhere Schulen, in denen sich
Erwachsene wirkliche Kenntnis des römischen Rechts hätten aneignen können, sind nirgends
nachweisbar, auch nicht in Rom und Ravenna, wie man auf Grund einer Außerung Odofreds
(1 1265) fälschlich angenommen hat. Wir kennen keinen einzigen der angeblichen Lehrer bei
Namen. Die Zeugnisse, mittels deren man die Existenz solcher Rechtsschulen hat dartun
wollen, zergehen bei näherer Untersuchung in Nichts 3.
Die Schriftstellerei der Epoche steht auf sehr niedriger Stufe und kann nicht als wissen-
schaftlich bezeichnet werden #. Sie beschränkt sich auf Anfertigung von Auszügen und ver-
kürzende Bearbeitungen (sog. Summae) der Quellen und auf Glossen, die aber das juristische
Verständnis der Texte kaum zu fördern geeignet sind, vielmehr philologisch-grammatischen
Zwecken dienen. Sie beschränkt sich ferner auf den verkürzten Kodex, den Novellenauszug
Julians, die Institutionen und das Breviar; die Digesten, d. h. der weitaus wertvollste Be-
standteil der Justinianischen Kompilation, bleiben gänzlich außer Betracht. Eine höhere Be-
wertung der frühmittelalterlichen Literatur ist nur dadurch möglich gewesen, daß man Werke,
die aller Wahrscheinlichkeit nach erst den Anfangsjahrzehnten des 12. Jahrhunderts angehören
und bereits den Einfluß der Glossatorenschule (s. unten) verraten, schon dem 11. Jahrhundert
zugeschrieben und aus ihrer verhältnismäßigen Reife auf eine ihnen entsprechende, in-
tensive Bearbeitung des römischen Rechts geschlossen hat. Dahin gehört die epitome exactis
regibus, eine systematisch geordnete Sammlung von Worterklärungen 5; dahin gehören ferner
auch selbständige Lehrbücher, die in der Weise des Mittelalters eines aus dem anderen ab-
geschrieben und unter Hinzunahme anderer Hilfsmittel erweitert und vervollständigt wurden.
Das sog. Tübinger und das sog. Ashburnhamer Rechtsbuch wurden die Grundlage der excep-
tiones legum Romanorum des Petrus '. Sie sind alle drei wahrscheinlich in der Provence
entstanden 7 und in Frankreich und Spanien benutzt worden. Ebenfalls wahrscheinlich franzö-
sischen Ursprungs ist der sog. Brachylogus, ein viel benutzter, geschickt geschriebener Uberblick
der Institutionen, der aber auch die anderen Teile der Justinianischen Kodifikation benutzt 3.
Fitting, Die Anfänge der Rechtsschule von Bologna. 1888 (wo auch Literatur);
andererseits M. Conrat in seiner Geschichte der Quell. u. Lit. Vgll. außerdem noch Conrat,
Die epitome exactis regibus. 1884 (Einleitung); Landsberg, 86. XXII S. 413 f., auch
Halban, das röm. R. i. d. germ. Volksstaaten II S. 83 f.
Belege bei PFatetta, Bullett. VIII p. 54 n. 1.
* Vgl. Conrat, Epitome p. CCLXXIII, CCLXXXXI n. 3, ferner (speziell auch gegen
die Folgerungen, die Fitting aus der von ihm herausgegebenen Schrift Questiones de iuris
subtilitatibus, 1894, gezogen hat): Patetta, Bullett. VIII p. 39 s., studi Senesi XIV p. 1 8.,
Pescatore, Krit. Studien (Beiträge 4.), besonders S. 82 ff., Kantorowicz, 8R6.
XIIII S. 252 ff.
Die Belege in Conrats Geschichte, Abschnitt VII.
* Herausgegeben und eingeleitet von Conrat (s. N. 1).
Savigny, Geschichte II; Conrat, Geschichte, Kap. 29.
! Anders freilich wieder PFatetta, Riv. ltal. per le scienze giur. XII p. 317 s.,
Gaudenzi, Memorie della R. acad. di Bologna, sez. di scienze giur. *+1 p. 80 8.
* Ausgabe von Böcking 1829; vgl. Fitting, Uber die Heimat und das Alter des sog.
Brachylogus (1880), Conrat, Geschichte, Kap. 30.