394 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts.
Er war für Lehrzwecke bestimmt, während die vorgenannten Rechtsbücher auf Gebrauch in der
Praxis berechnet sind 1 und daher auch eine gewisse Anpassung an moderne Verhältnisse zeigen.
Etwas wirklich aufwärts und vorwärts Strebendes hat übrigens keine auch von diesen Schriften.
Sie arbeiten mit fertig vorliegenden Begriffen und Wahrheiten, nicht selten auch mit erheb-
lichen Irrtümern.
Von dieser Literatur ist der wissenschaftliche Betrieb des langobardischen Rechtes ab-
zusondern. Schon im 10. Jahrhunderte besteht eine Rechtsschule zu Pavia?; wir hören, daß
der Pavese Lanfrank in seiner Jugend dort glänzte und mit Bonifilius und dessen
Schüler Wilihelmus wissenschaftliche Kämpfe bestand. Eine ganze Reihe von Namen
schließt sich an. Es erwuchs eine reiche Literatur : des langobardischen Rechtes, hauptsächlich
Glossen zu den Edikten der langobardischen und den Kapitularien der fränkischen Könige; noch
vor 1100 aber entstand auch eine systematische Bearbeitung derselben, die Lombarda. Das
römische Recht wird hier schon im 11. Jahrhundert mit herangezogen und in einem g. E. des-
selben verfaßten Kommentar als lex generalis bezeichnet.
§ 74. Bologna und die Glossatoren. Um die Wende des 11. Jahrhunderts ent-
wickelte sich aus dem stucium artium, das seit lange in Bologna bestand, ein studium generale:
die verschiedenen am Orte wirkenden Lehrer der Wissenschaften und „Künste“ und ihre Schüler
(scholares) werden zu einer Körperschaft einheitlich zusammengefaßt und diese mit Vorrechten
ausgestattet#. Den Mittelpunkt der neuen Universität bildet die Lehre des römischen Rechtes.
UÜber die Anfänge der Rechtsschule von Bologna besitzen wir keine zuverlässige Nachricht. Die
spätere Überlieferung aber knüpft den Ausschwung der Rechtswissenschaft an die Auffindung
der vollständigen Justinianischen Rechtsbücher, und ihre Einführung in die Lehre an den Namen
des Guarnerius oder Irnerius an, sehr wahrscheinlich mit Recht; alles Suchen nach
Vorgängern des Irnerius — man hat insbesondere auf einen in einer Urkunde von 1076 ge-
nannten „legis doctor“ (d. h. aber nur Schöffe oder Rechtskundiger) Pepo hingewiesen — hat
bis zur Stunde zu keinem haltbaren Ergebnis geführt 5. Vom Leben des Irnerius wissen
wir so gut wie nichts #. Er war zweifellos aus Bologna gebürtig und dort Bürger, wird in Ur-
kunden bis 1125 als judex genannt, kann aber noch länger gelebt haben. Im Jahre 1115 steht
er schon in höherem Alter; möglich also, daß seine Lehrtätigkeit bis ins 11. Jahrhundert zurück-
geht. Er gilt als der Gründer der Schule der „Glossatoren“, ein Name, der daher rührt, weil
die wissenschaftliche Leistung der Schule zwar nicht allein, aber doch vorzugsweise in Glossen
zu den Rechtsquellen niedergelegt ist; Irnerius selbst ist uns als Verfasser zahlreicher Glossen.
bezeugt. Daß er, auf der Grenze des langobardischen Gebietes, von der lombardischen Schule
angeregt wurde , ist möglich, aber keineswegs gewiß; ein wirkliches Vorbild konnten die
Arbeiten dieser Schule für die ungeheure Leistung, die in der Wiedererweckung des römischen
Rechtes liegt, nicht sein. Bis auf weiteres erscheint Irnerius als der Einzige, dem diese Leistung
zugeschrieben werden kann. Ihm folgten seine Schüler, die sog. quattuor doctores (Mar-
tinus (Gosia), Bulgarus, Hugo (de Porta Ravennate), Jacobus,
1 Vgl. für das Tübinger Rechtsbuch Conrat, Geschichte S.
* Merkel, Geschichte des Langobardenrechts (1850); bereichert und verbessert in der mit
Unterstützung des Verfassers heransgegebenen italienischen Übersetzung (Memorie e documenti
inediti spettanti alla storia del dir. Ital. nel medio evo I 1, 1857).
„ Boretius, Mon. Germ. bist. Leg. IV p. XCIII sagq.
*" Kaufmann, Gesch. der deutschen Universitäten I (1888) S. 98 ff.
* BVgl. Kantorowicz, 3. XIIV S. 19f. Seckel, Dist. Gloss. (1911) S. 286.
*Nach Fitting (Summa Codicis des Irnerius 1894; Questiones de iuris subtilitatibus
des Irnerius 1894) wäre Irnerius etwa um die Mitte des II. Jahrhunderts geboren, hätte seine
juristische Schulung an der Rechtsschule in Rom empfangen, dort auch um 1082 die Ouestiones
verfaßt und wäre dann nach Bologna übergesiedelt, wo er eine umfassende Tätigkeit als Lehrer
und Schriftsteller entfaltete. Darüber, daß die angeführten Schriften weder dem Irnerius noch
dem 11. Jahrhundert angehören, vgl. FKatetta, Bullett. VIII p. 398., Studi Senesi XIV
7 1s. #str, Krit. Studien (Beitr. 4.) S. 82 ff., Kantorowicz, 8RG. XIIIII
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7 Pescatore, Die Glossen des Irnerius (1888), Ficker, Forschungen zur Reichs-
und Rechtsgeschichte Raliens III S. 138 ff.