3. Bruns--Lenel, Geschichte und Quellen des römischen Rechts. 395
und von der Mitte des zwölften Jahrhunderts ab beginnt eine nicht mehr unterbrochene
Reihe von zum Teil hochbedeutenden Rechtslehrern, die sich, an zahlreichen Rechtsschulen
lehrend, über ganz Italien und Südfrankreich verteilen und die Grundlagen der modernen
Wissenschaft des römischen Rechtes schaffen, die sich von da über ganz Europa verbreitet hat.
Die Bedeutung des Irnerius und seiner Nachfolger liegt darin, daß sie nicht mehr, wie man
dies bis auf sie tat, bloß Auszüge aus Kodex und Novellen und die Institutionen benutzen,
sondern die gesamte Justinianische Gesetzgebung, insbesondere auch ihren weitaus wertvollsten
Teil, die Digesten, zum Gegenstand der Bearbeitung machen, und daß sie dieses gewaltige
Material systematisch und juristisch in einer Weise zu meistern verstehen, die noch heute unsere
volle Bewunderung fordert. Ihre Methode war die der Frühscholastik 1, die von der haar-
spaltenden Distinktionensucht der späteren noch frei ist. Für diese Methode war das Corpus
juris wie geschaffen: ein in sich geschlossenes System, an dessen Wahrheit als einer ratio scripta
geglaubt wird wie an die Bibel und den Aristoteles. Es galt, dieses Werk dialektisch zu zer-
gliedern, zu erklären und zu ergründen, das als Wahrheit Geglaubte zu freier Erkenntnis zu
erheben. Mit gesundem Takte erfassen sie die römischen Aussprüche, vergleichen, kombinieren
sie, lösen die Widersprüche, abstrahieren allgemeinere Sätze und Begriffe daraus und vollziehen
so die erste Rezeption des römischen Rechts in das moderne Bewußtsein in einer Weise, daß
ihre Arbeiten noch jetzt von großem Werte sind. Was ihnen fehlt, ist die historische Anschauung.
Das Corpus iuris ist ihnen nicht das Recht einer vergangenen Epoche, zusammengesetzt aus
Stücken von zeitlich sehr verschiedener Herkunft, die aus den Verhältnissen ihrer Abfassungs-
zeit zu verstehen und zu erklären wären, sondern eine Art juristischer Bibel mit dem Anspruch,
immer und überall zu gelten. Infolgedessen verhalten sie sich auch wesentlich ablehnend oder
ignorierend gegenüber dem Recht ihrer Gegenwart, insbesondere gegenüber dem italienischen
Statutarrecht, und als Schriftsteller sind sie, mag ihre Einwirkung auf die Praxis auch noch
so stark geworden sein, durchaus Theoretiker. Erst ihre Nachfolger, die sog. Postglossatoren
— von der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ab —, haben es verstanden, hier die Brücke
zu schlagen.
Als der Abschluß der Glossatorenschule gilt Accursius (ca. 1182 bis ca. 1260) in Bologna.
Dieser setzte aus der gesamten bisherigen Literatur einen vollständigen Kommentar zu allen
vier Justinianischen Rechtsbüchern zusammen, der unter dem Titel glossa ordinaria : von da
an allgemeine Verbreitung fand und einen solchen Einfluß in der Praxis erlangte; daß alle
Stellen, auf die er sich nicht erstreckt, nicht zur Anwendung gebracht wurden. Diese Stellen
sind teils solche, die die Glossatoren nicht kannten, teils solche, die sie für unbrauchbar hielten,
so z. B. die Vorschriften über den Spielvertrag. Der nicht glossierte Text war demnach nicht
in usu. Daraus entwickelt sich (seit dem 17. Jahrhundert) ein Sprichwort mit dem Charakter
des Rechtssatzes: das Unglossierte soll nicht angewendet werden (quidquid non agnoscit glossa,
non agnoscit curia) #. In den Pandekten sind es nur wenige Stellen, die in den damaligen
Handschriften fehlten, im Kodex aber alle leges restitutae (§ 68, 5) und von den Novellen 71 .
§ 75. Der Zustand der Handschriften des Justinianischen Rechts,
die den Glossatoren zu Gebote standen und auf denen im wesentlichen auch noch unsere heutige
Kenntnis beruht, war folgender. Von einer Vereinigung der vier Teile zu einem Ganzen,
dem sog. Corpus iuris 5, war noch keine Rede, sondern die einzelnen Teile waren getrennt über-
liefert. Von den Institutionen hatte man keine einzige alte Handschrift aus der Justinia-
nischen Zeit, sondern nur verschiedene Abschriften aus der Zwischenzeit. Keine reichte aber
über das 9. Jahrhundert zurück“. Von den Pandekten gab es in Pisa eine vollständige,
sorgfältig durchkorrigierte Handschrift aus der byzantinischen Zeit, spätestens dem 7. Jahr-
: Landsberg, Die Glosse des Accursius (1883); Kaufmann, a. a. O. S. 1—97.
* Landsberg, Die Glosse des Accursius. 1883.
* Landsberg, üÜber die Entstehung der Regel: d. n. a. gl., n. a. forum 1880.
* Biener, Geschichte der Novellen Sueinians S. 271 IV. «
sDieBezeichnungfindetsichfchonim12.Jahrhundert,abererstdurchdteAuögabevon
D. Gothofred (1583) ist sie allgemein üblich geworden.
SES. darüber: Schrader, Prodromus corporis iur. civ. 1823 p. 35—78; Krüger,
Lustin. instit. praef. 1867.