Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

36 I. Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 
man gelangte auf zwei Wegen zur einseitigen widerruflichen Verfügung, zum Testament: 
1. man behielt sich bei einem solchen Erbvertrag das beliebige Rücktrittsrecht vor, oder 2. man 
wandte das Vermögen nicht dem Erben, sondern einem Vertrauensmann, Testamentsvollstrecker, 
zu und empfahl diesem die Reihe letztwilliger Verfügungen, deren Ausführung man wünschte, 
zur Erfüllung und Nachachtung 1. Der juristische Erbe war hier der Testamentsvollstrecker, 
aber er war nur ein Erbe fiduziarischer Art im Interesse Dritter; und da der Vertrauensmann 
kein maßgebendes Interesse hatte, daß eher der A als der B das Vermögen bekam, so gab 
man von selber dem Erblasser die Befugnis, die Bestimmungen zu ändern und dem Treu- 
händer ein anderes Verzeichnis von Erben zu übergeben: die Verfügung wurde dadurch zur 
letztwilligen Verfügung. Auf solche Weise entwickelte sich das einseitige Testament? und damit 
eine der größten Wohltaten der Menschheit; denn dieses verbindet in sich folgende Betätigungen: 
a) Die Persönlichkeit wirkt über das Grab hinaus; b) sie kann die besonderen Verhältnisse berück- 
sichtigen und demjenigen Zuwendungen machen, der ihrer bedarf; c) sie kann die Unstimmig- 
keiten und Ungerechtigkeiten der Natur mildern, indem sie denjenigen, der von Natur bedürfnis- 
voller in die Welt gesetzt ist als die anderen, mit einer besonderen Gabe bedenkt und ihm dadurch 
eine gewisse Ausgleichung gegenüber der Härte des Schicksals verschafft; d) sie kann bewirken, 
daß Vermögensmassen, deren Zerschlagung und Zersplitterung wirtschaftlich und ethisch nach- 
teilig wäre, beisammen bleiben. Schließlich ist das Testament ein Hebel menschlicher Wohl- 
tätigkeit, ein Mittel, um ideale Zwecke zu fördern und insbesondere Vermögen zu Stiftungs- 
zwecken anzus ammeln. 
Ein wichtiges Problem ist es, wie weit der Einzelwille des Erblassers gehen darf, und 
ob seine Willkür, die im wesentlichen schalten und walten darf, nicht gewissen Beschränkungen 
und gesetzlichen Kontrollbestimmungen unterliegen soll. Manche Rechte, auch das ältere 
römische Recht, überlassen alles dem Pflichtermessen und der Verantwortlichkeit des Erblassers 
vor seinem Gewissen und der Welt. Dieses System hat unzweifelhafte Vorzüge: die Zwecke 
des Testamentes können reichlicher erreicht, die Unebenheiten besser ausgeglichen, die Einheit 
des Familienguts kann gewahrt und dieses vor Zersplitterungen behütet werden. Trotzdem ist 
weder das römische noch das deutsche Recht dabei stehen geblieben; beide fürchten argwöhnend den 
Fall eines Mißbrauchs. Nun könnte man es dem freien Ermessen des Gerichts oder der Obrigkeit 
überlassen, zu prüfen, ob im einzelnen Falle ein solcher Mißbrauch vorliegt, insbesondere, ob 
die Erbschaft einer unwürdigen Person zugewandt ist. Sowohl das römische wie das ger- 
manische Recht zeigen Ansätze zu dieser Entwicklung. Man ist aber dabei nicht stehen geblieben 
und ist zu festen Größenbestimmungen gelangt: die nächsten Erben sollten das Recht auf einen 
gesetzlichen Teil, eine portio legitima, bekommen, den Fall schwerer sittlicher Verfehlungen aus- 
genommen. 
Dies ist das System der modernen kontinentalen Rechte geworden, während das eng- 
lische und angloamerikanische Recht kein Pflichtteilsinstitut kennt, dem Erblasser die volle Ver- 
fügungsbefugnis gewährt und ihn nur der Zensur der Familie und der Gesellschaft unterwirft. 
Esist nicht zu verkennen, daß unser Recht den widerstrebenden Erfordernissen Rechnung trägt; ander- 
seits ist es der großen Ansammlung von Vermögensmassen nicht günstig: es führt insbesondere bei 
Großbetrieben und Großgütersystemen zu einer oft bedauernswerten Zersplitterung oder doch 
Belastung und Uberbelastung der Wirtschaftsgrundlagen und Wirtschaftsmittel, so daß man 
sich veranlaßt gesehen hat, einerseits durch ein System unteilbarer, unbelastbarer Stamm- 
güter, anderseits durch die bäuerliche Einrichtung des Anerbenrechts den schweren wirtschaft- 
lichen Nachteilen zu entgehen, welche eine unvermeidliche Wertzerteilung zur Folge hätte. 
Ein anderer Nachteil des Pflichtteilsystems ist es, daß oft ein beträchtliches Erbgut an 
einen Sohn zu hinterlassen ist, der als Verschwender wenig Gutes fördert, oder an einen Erben, 
dessen Vermögen sofort die Beute der Gläubiger wird. Diesem Nachteil steuert man heut- 
1 Einführung in die Rechtswissenschaft S. 108. 
„ So im röm. Recht das Manzipationstestament. Daher auch der römische Satz: Nemo 
bro“ parte testatus, pro parte intestatus decedere potest; man konnte dem Vertrauensmann, 
em familiae emptor, nur sein ganzes Vermögen über eben, und dies schloß von selbst die geset- 
liche Erbfolge aus; eine Berbindun ipe von bestalnentarischer und gesetzlicher Erbfolge war und blieb 
daher dem römischen Recht unden Bei uns fällt diese ganze Gedankenfolge weg.
	        
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