396 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts.
hunderte; wie sie dahin gekommen, ist ungewiß. Seit 1406 ist sie in Florenz und wird darum
die Florentina genannt 1. Obwohl nun die Glossatoren ihre Textgestaltung, eine für ihre Zeit
höchst bedeutsame philologische Leistung, als littera vulgata der littera Pisana entgegen-
setzen, ist doch ihre Abstammung aus der Florentina unzweifelhaft; sie ergibt sich insbesondere
aus der Übernahme gewisser rein äußerlicher Fehler. Andererseits aber weist die littera vulgata
auch eine sehr große Zahl abweichender Lesarten auf, die nicht alle auf bloßen Konjekturen
beruhen können, sondern zum Teil durch eine selbständige, handschriftliche Grundlage bedingt
sind. Das Rätsel dieser gleichzeitigen Abhängigkeit und Unabhängigkeit hat mit größter Wahr-
scheinlichkeit Th. Mommsen gelöst 2. Die Vulgata beruht auf einer aus der Florentina
genommenen Abschrift (daher die Ubernahme der Fehler), die auf Grund einer anderen alten,
jetzt verlorenen Handschrift 3 verbessert worden ist. Aus diesem Urtext, der vielleicht von
Irnerius selbst hergestellt worden ist“, sind alle erhaltenen Handschriften der Vulgata hervor-
gegangen; ihre Verschiedenheiten beruhen nur auf Korruptelen oder Konjekturen. Seine Her-
stellung muß der schriftstellerischen Tätigkeit des Irnerius vorausgegangen, also noch im 11. Jahr-
hundert erfolgt sein. Höchst merkwürdig ist, daß alle Vulgathandschriften uns in einer an-
scheinend sinnlosen Dreiteilung erhalten sind, die auch in die älteren gedruckten Ausgaben über-
gegangen ist und wahrscheinlich schon der Urhandschrift eigen war: Digestum vetus (lib. 1 —
lib. 24, 2), Inforciatum (lib. 24, 3— lib. 38), Dig. novum (lib. 39— 50); der Schlußteil des Inforcia-
tum, anfangend mit den Worten: Tres partes in D. 35, 2, 82, führt noch den besonderen Namen
Tres partes. Der Ursprung dieser Dreiteilung ist überaus bestritten, was die Uberlieferung
darüber berichtet, bloße Konstruktion und völlig wertlos. Die Handschrift mußte um ihres
Umfangs willen in Stücke zerlegt werden; daß man die Zerlegung aber gerade an den
fraglichen Punkten vornahm, beruht, wie dies ja bei den Tres partes auf der Hand liegt, sehr
wahrscheinlich auf einem Schreiberscherz 5. Vom Kodex hatte man ebenfalls keine alte
byzantinische Handschrift, sondern nur verschiedene Abschriften aus der Zwischenzeit, in denen
die Inskriptionen und Subskriptionen verkürzt und nachlässig behandelt sind, und in denen die
griechischen Konstitutionen fehlen, später meistens auch die drei letzten Bücher; sie sind auch nach-
her, als man sie wieder abzuschreiben anfing, nicht wieder mit dem „Kodex“ vereinigt worden.
Eine alte byzantinische Handschrift des Kodex ist erst in neuerer Zeit, im Jahre 1817, in einem
codex rescriptus in Verona, und auch nur zu einem Teile, gefunden #. Bei den Novellen?
kannte schon Irnerius nicht mehr bloß die epitome luliani 8, sondern bereits das Authenti-
kum?', die Sammlung der 168 war dagegen auch den späteren Glossatoren noch nicht bekanntio.
Die Feststellung des Textes muß selbstverständlich auf dem gleichen Wege der wissen-
schaftlichen Kritik vorgenommen werden, wie dies bei allen anderen Schriftwerken aus dem
1 Eine photographische Reproduktion der Florentina ist der Vollendung nahe: Dig. seu Pand.
cod. Flor. olim Pisanus phototypice expressus a cura della commiss. minist. per la reprod. delle
Pandette (erscheint lieferungsweise seit 1902).
In der praef. seiner großen Digestenausgabe p. LXVI sgq.
Der Digesten selbst, wie Mommsen, eines bloßen Digesten auszugs, wie
Kantorowicz, B8R. XIIII. S. 232 annimmt. Darüber, daß die Korrektur scch nicht auf
einen bloßen Teil ber Digesten beschränkt, s. überzeugend Kantorowicz, a. a. O. S. 223 ff.
* So Kantorowicz, B8G. XlIII S. 270 ff., XLIV S. 14 ff.
5 Das Dig. novum beginnt mit dem Titel de operis novi nuntiatione; vetus und Inforcia-
tum sind geschieden zwischen den Titeln de divortüs und soluto matrimonio. Inforciatum
heißt nicht das „verstärkte", sondern das zwischen vetus und novum „eingeschlossene“ digestum.
So in der Haupksache bereits Dion. Gothofredus in seiner Note zur Rubrik des Digestentitels 24, 3.
Neu ausgenommen und näher begründet von Kantorowicz, 3Z3R. XIIV S. 40 f.
*Krüger, Kritik des Justinianischen Kodex. 1867. Codicis Lustiniani fragmenta Vero-
nensia, ed. P. Krüger. 1874 (reskribiert im 8. oder 9. Jahrhundert).
* Biener, Geschichte der Novellen Justinians. 1824.
üÜbber die Handschri ten: Haubold, BZtschr. f. desch- Rechtswiss. IV S. 133; Hänel,
Nachtrag dazu. VIII S. 357. Ausgabe von Hänel 1
Eine besondere Ausgabe des Authentikums mit 4 Angaben über die Handschriften
ist: Authenticum. Novellarum lustiniani versio vulgata, ed. GP Heimbach. 2 voll.
1846—51. Neue Ausgabe von Schöll und Kroll in der nkenkeoten Novellenausgabe.
½ Es gibt nur zwei vollständige Handschriften davon, in Florenz und Venedig. Die erstere
ist zuerst von Haloander 1531 herausgegeben, die andere von Scerimger l5b558, beide
aber nur nach Abschriften.