Einleitung.
§ 1. Das spätklassische Recht, etwa im Zeitalter der Severenkaiser (193—235 n. Chr.), das
im folgenden dargestellt werden soll, ist nicht mit den einheitlichen Rechtszuständen vergleichbar,
die aus den Gesetzgebungen unserer Tage hervorgehen. Die Juristen der Republik fanden noch
größtenteils archaische Vorstellungen und Einrichtungen vor, in der Wirtschaft und Gesellschaft
wie im Recht. Es ist dann die wichtigste Besonderheit der Römer geworden, daß die Aus-
gestaltung und Erläuterung der actiones, d. i. der Formeln für Verträge und Prozesse, genug
erstarkte, um auf das Rechtswesen maßgebenden Einfluß zu gewinnen. Das ursprünglich private
Schiedsgerichtsverfahren, staatlich diszipliniert in der Form zunächst der Legis actio, später des
„Formularprozesses“, wird der Kern eines festumrissenen Privatrechts. Beide, am Ausgang
der Republik grundsätzlich festgelegt und in der Anlage fertig, werden im Laufe des Prinzipats
eifrig und mit unerhörtem Erfolg ausgebaut bis zur Krönung durch die Jurisprudenz der
Severenepoche, bis zur Höhe der Rechtswissenschaft, die hier zu schildern ist und von der es
rasch in den Abgrund geht. Aber genauer betrachtet, ist dies eine einseitige Wahrheit. Während
sich in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung jener Aufbau vollzieht, beginnen die
Fundamente zu wanken. Das Aktionensystem lockert sich, in der Severenzeit ist sein strenges
Gefüge innerlich gelöst. Der „ordentliche Prozeß“ wird aus dem Herrn der Diener des Privat-
rechts, das den Verkehr des Weltreichs zu regieren hat. Und zugleich erhebt und erweitert
sich ein neues Prozeßverfahren, um schließlich das alte zu verdrängen. So geht das gesamte
klassische Recht schon vermöge der in ihm enthaltenen Elemente in das byzantinische über.
Dort wird die Justizhoheit des Staates vewollkommnet, das materielle Recht dem Prozeß
vorangestellt, das Recht durch Billigkeitserwägungen zersetzt; dort vermischt sich das römische
Recht mit der hellenistisch-orientalischen Welt.
Die Rechtsgeschichtschreibung wird dereinst hoffentlich imstande sein, alles dies anschaulich
herauszuarbeiten: wie das Werk der Juristen durch die Aktionen die primitiven Institutionen
überwand und die Zukunft vorbereitete, die das Aktionensystem auflöst und das Rechts system
begründet. Die nachfolgenden Zeilen müssen sich damit begnügen, unter Vernachlässigung
absterbender Reste und noch nicht emporgesprossener Keime den wichtigsten lebenden Bestand
der späten Prinzipats summarisch zu überblicken, ja auch in ihm eher die geschichtlich ausgereiften
Institute als die im Werden begriffenen, in verstreuten Entscheidungen angekündigten Gebilde
zu beachten.
Wie jeder Kenner weiß, ist auch diese Aufgabe während der heutigen grundstürzenden Um-
wälzung unseres Wissens nicht im wissenschaftlichen Sinn erfüllbar. Es wird nur bezweckt, den
gegenwärtigen Stand der Forschung im Hinblick auf die römische Blütezeit zusammenzufassen, in
Zweifelsfällen unter Bevorzugung der bisher herrschenden Meinung. Da aber zudem der un-
geheure Stoff im Rahmen eines Enzyklopädiebeitrags nicht annähernd erschöpft werden kann,
so bin ich bestrebt, diejenigen Partien auszuwählen, die vermöge ihrer Bedeutung für die römische
Jurisprudenz oder das wirtschaftliche Leben des Altertums oder das Pandektenrecht hervorragen,
in diesen Partien aber eher diejenigen Punkte zu berühren, in denen die neue Forschung die ge-
meinrechtliche Lehre verlassen hat. Über die letztere unterrichten die Lehrbücher und der berühmte
Aufsatz von Bruns, ergänzt von Mitteis in der letzten Auflage dieser Enzyklopädie. Z
Auch für die Literaturnachweise darf vor allem auf die Bibliographien bei Windscheid-
Kipp, Pandekten und die Auswahl bei Dernburg, Pandekten ’' (mit Biermann),
wonach hier zitiert wird, und ' (von Sokolowski) verwiesen werden. Den heutigen äußeren
Stand der romanistischen Forschung übersichtlich zu stizzieren, versuchte ich vor kurzem: „Die
Geisteswissenschaften“", Heft 1 und 7 (1913).
ier sollen außer den Hauptwerken jeder Lehre nur die m. E. wichtigsten neuen Aufsätze
und Einzelbemerkungen angegeben werden. üÜberall verdanke ich vieles den modernen Gesamt-
darstellungen, die doch nur ein für allemal vorweg genannt werden können: P. F. Girard,
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