Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

I. Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 
aushelfen müssen, ist ein familienrechtliches, nicht ein schuldrechtliches Element. Erst wenn 
die Familie sich lockert und die Einzelpersonen ohne Rücksicht auf ihre Familienangehörigkeit 
in Verbindung treten, kann das Schuldrecht als Verpflichtungsrecht entstehen. 
Das Tuauschinstitut geht dem Schuldrecht voraus; lange Zeit hat es Austausch gegeben, 
ehe man den Gedanken des Schuldrechts gefaßt hat. Der Austausch bestand eben in der un- 
mittelbaren Hingabe der einen Sache für die andere, wobei man in einfachen Verhältnissen 
der Verpflichtung entbehren konnte. 
Sobald aber der Gedanke auftrat, daß zukünftige Leistungen mit in das Bereich des Rechts 
gezogen werden, war ein Fortschritt, und zwar ein Fortschritt ersten Ranges gegeben. Es war 
ein Fortschritt wirtschaftlicher wie ethischer Art. Der wirtschaftliche Fortschritt bestand darin, 
daß es möglich wurde, Leistungen künftiger Zeit jetzt schon in das Getriebe des Verkehrs hinein- 
zuwerfen und zum Gegenstand verkehrsmäßigen Austausches zu machen. Derjenige, der nichts 
hat, als seine Arbeitskraft, kann möglicherweise mit den Mitteln anderer wirtschaften, wenn 
er die Gegenleistung in der Zukunft verspricht, nachdem er den erhofften Gewinn gemacht hat. 
Auf diese Weise vertraut der eine auf die künftige Leistung des anderen, und das nennt man 
Kredit. Mit dem Kredit kommt eine ganze Fülle neuer Werte in den Verkehr, die Vergangen- 
heit dient der Zukunft, wie die Zukunft der Vergangenheit; die Schranke der Zeit wird über- 
schritten, und ungehindert herrscht jetzt der Mensch über Zeit und Raum. 
Die juristische Konstruktion dieses Verhältnisses ist allerdings sehr verschieden gewesen. 
Die erste Zeit mußte sich solche Beziehung vorstellen als eine Art von Wertrecht des 
Gläubigers an der Person des Schuldnerssn: er hatte das Recht, aus dem 
Schuldner in irgendeiner Weise das Geld herauszupressen; der Schuldner war seine Pfand- 
sache. Und so kam die weltgeschichtliche Idee von der Haftung des Schuldners mit Leib und 
Leben, von der Haftung des Leichnams, von der Haftung mit der Freiheit, von der Schuld- 
sklaverei und von der Abarbeitung der Schulden durch den verpfändeten Schuldner (Pfand- 
ling), eine Idee, die in der Geschichte der Menschheit viele Jahrhunderte einnimmt und Genera- 
tionen hindurch zwar erzieherisch wirkte, aber auch eine Fülle von Elend und Weh über die 
Familien brachte. Dies zeigt sich auch in der Symbolik: der Schuldner überliefert entweder 
seinen Leib, oder er überliefert sein Wesen durch Ubergabe des Stabes, des Lebensfetischs, wo- 
durch er dem Gläubiger mit Leib und Seele verfangen wird. Schon eine Abschwächung ist 
es, wenn die Haftungserklärung sich vereinzelt und der Schuldner dem Gläubiger sein Pfund 
Fleisch, seine Freiheit, seine Ehre, sein Seelenheil verpfändet. Lange Zeit hatte die Menschheit 
zu ringen, sich von diesem Gedanken freizumachen, und es gelang ihr; vorher aber war es nötig, 
daß sie den Haftungsbegriff von der Person abzustreifen und dafür den Begriff der Ver- 
pflichtung einzusetzen vermochte: der Schuldner haftet nicht mehr, d. h. seine Persönlich- 
keit ist frei und unangetastet; er ist nur verpflichtet, d. h. er ist gehalten, eine 
Leistung zu machen. Dieser Umschwung vollzog sich zunächst auf religiösem Gebiete: der 
Schuldner versprach bei der Gottheit: das Versprechen war ein geistliches Gelöbnis, das Ge- 
löbnis aber sollte durch den pflichterfüllten freien Willen vollzogen werden. Auf diese Weise 
verband sich die Idee des freien Willens mit der Idee des Rechtsgebotes. Das Rechtsgebot 
aber machte sich im geistlichen Recht geltend durch geistliche Zensur, im weltlichen Recht durch 
weltliche Zensur, durch strafweise Minderung der Stellung des Schuldners im Rechtsleben. Hier 
konnten alle jene Beeinträchtigungen der schuldnerischen Person wiederholt werden, bis man 
schließlich das Persönlichkeitsrecht so sehr betonte, daß der Gläubiger sich nicht mehr an der 
Person, sondern nur an dem Vermögen vergreifen durfte und hier seine Befriedigung suchen 
mußte. 
Das Versprechen im bisherigen Sinne hatte einen formalen Charakter: es gab die Person 
des Schuldners dem Gläubiger preis oder überantwortete ihn der Zensur des Rechts ohne Rück- 
sicht auf seinen Inhalt. Ein großer Fortschritt war es, als man das Versprechen von diesem 
sormalen Stande losriß, als man den Unterschied machte zwischen dem Versprechen von er- 
laubten und von unerlaubten Dingen, als man das vernünftige und das unvernünftige Ver- 
sprechen unterschied, als man auch hier die Relativität des Rechts erkannte und das Versprechen 
nur als einen Hebel der Rechtskultur auffaßte. So wurde die individualistische Zusage
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.