J. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 51
Eine große Rolle hat bei alledem auch die Sage von der konstantinischen Schenkung ge-
spielt, indem man behauptete, dieser Kaiser habe, von einer Krankheit genesen, dem Papst
Sylvester bedeutende Zugeständnisse gemacht. Die frühere Zeit glaubte an diese Schenkung
und suchte sich mehr oder minder damit abzufinden, Dante ebenso wie Bartolus u. a.
Heutzutage ist die Unechtheit und der legendarische Charakter dieser Uberlieferung ohne Zweffel.
Noch lange wogte der Kampf nach, auch nachdem die Idee des Weltkaisertums Schiff-
bruch gelitten hatte, und Jesuiten wie Suarez und Johannes Mariana waren
beredte Vertreter des Kurialsystems, das bis in die systematisch durchgeführte Lehre von der
Berechtigung zum Tyrannenmord ausmündete 1.
Andere Wege schlug das Naturrecht ein. Der gesunde Gedanke, daß die Gliederung der
Menschheit aus dem Innern der Menschenseele hervorgeht, nur nicht aus der Menschenseele
in der Vereinzelung, sondern in ihrem sozialen Zusammenhang, wurde zum Staatsvertrag
verzerrt, indem man den sozialen Gesamtwillen zu einer Summe von zusammentreffenden
Einzelwillen vereinzelte und diese Summe unter den vom Privatrecht her bekannten Begriff
des Vertrags brachte. Die ganze Vorstellung beruhte auf dem dem Naturrecht eigenen Mangel
an metaphysischer Grundlegung, auf der Unfähigkeit, die Gesamtheit als Gesamtheit und den
in ihr weilenden teleologischen Trieb zu erkennen 2. Und diese Vorstellung hegte man, trotz-
dem schon Aristoteles in seiner Politik I 1, § 9 das goldene Wort gesprochen hatte, daß
der Staat eine Naturschöpfung sei und der Mensch ein von Naturanlage zum Staate vor-
gebildetes Wesen, ein 2oon politicon, und trotzdem Thomas von Aquin so herrlich ver-
kündet hatte, der Mensch müsse in Staaten leben, er müßte dies, selbst wenn der Sündenfall
nicht gewesen wäre 3. Und doch hatte einer der größten Politiker und der gewaltigsten Opportu-
nisten, Machiavelli (1469—1527), bereits gezeigt, wie im Erwerb und in der Erhaltung
der Herrschaft die Machtfrage die Hauptrolle spielt, die Macht über die Mittel und über die
Gemüter, ohne Rücksicht auf die Zustimmung der Bevölkerung 4.
Selbst Spinoza konnte sich lange Zeit von der Idee des Staatsvertrages nicht los-
machen; er hing ihr noch an in seinem tractatus theologico-politicus, er sprach hier noch von
den Bedingungen dieses pactum (XVI, § 12 ff.). Weiter ist er allerdings in seinem nach-
gelassenen Werke, dem unvollendeten tractatus politicus, gediehen, wo der Staatsvertrag
ziemlich verschwindet (VI 1, III 9): in unum conspirare, et communi aliquo affectu natura-
liter convenire 5. Allein der Einfluß Spinozas nahm seit den ersten Dezennien des
18. Jahrhunderts ab, und die Außerung des letzten Traktats blieb ziemlich einflußlos . Noch
bis ins 19. Jahrhundert geisterte die Lehre vom Staatsvertrag, bis sie der große Hegel für
immer bannte: „Es liegt nicht in der Willkür der Individuen, sich vom Staate zu trennen, da
man schon Bürger desselben nach der Naturseite hin ist. Die vernünftige Bestimmung des
Menschen ist, im Staate zu leben, und ist noch kein Staat da, so ist die Forderung der Vernunft
vorhanden, daß er gegründet werde. Ein Staat muß eben die Erlaubnis dazu geben, daß man
in ihn trete oder ihn verlasse; dies ist also nicht von der Willkür der Einzelnen abhängig, und
der Staat beruht somit nicht auf Vertrag, der Willkür voraussetzt. Es ist falsch, wenn man sagt,
es sei in der Willkür aller, einen Staat zu gründen; es ist vielmehr für jeden absolut notwendig,
daß er im Staate sei.“ (Philosophie des Rechts § 75)7. Dies ist seit Aristoteles das
Vemümstis, was darüber geäußert wurde. Ein Eingehen auf die verschiedenen Irrgänge
Bgl. die bemerkenswerte Schrift von H. G. Schmidt, Lehre vom Tyrannenmord (1901)
40 f. Sodann Schubert, Sttatelehre von Johannes Salisbury u. a.
„ Bgl. Einführung S. 122. rigens findet sich die Lehre des Staatsvertrags schon viel
früher, vor alem bei dem ehechbt bsgen lindet Mehti, vgl. Arch. f. Rechtsphil. III S. 23.
örl. Baumann, Staatslehre des hl. Thomas v. Aquin S. 167.
Uber Machhiavell vgi. Schmidt, Macchiavelli und die allgemeine Staatslehre S. 67 (1907).
« Vgl über diesen Fortschritt in der Anschauung Spinozas Me n el in den Festheten
für Unger S. 54 und d da meine Bemerkungen im Jurist. Literaturblatt x S. 30 und im Lehrb
der Rechtsphil. S
*Bgl. B ac, So erste Einwirkungen auf Deutschland S.
7 Tüesfendes jagt auch in dieser Beziehung Franz von 8 Fadst e K. dessen Aussprüche
von Reichel, Die -3 Franz von Baaders S. 24 f., Übersi ich zusammengeste
sind (Separatabdr. aus der Zeitschr. f. die gesamte Staatswissenschaft 57