J. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 57
Endlich hat auch die Religion wesentlich dazu beigetragen, die Blutrache aufzuheben.
Der ethische Gedanke, daß die Rache verwerflich sei, mußte zur Verdrängung des Instituts
führen; damit stand die Vorstellung nicht im Widerspruch, daß eine Strafe, und zwar eine sehr
energische Strafe — auch die Todesstrafe — zu verhängen sei, sofern sie von der Algemein-
heit ausgeht, um die Gesundheit des Volkes zu erhalten; denn hier tritt jeder Rachegedanke
zurück. Schon Thomas von Aquin sagt, daß die Fürsten als Arzte berufen seien, Auswüchse
im sozialen Körper zu entfernen. Man erkannte, daß die staatliche Strafe auf anderer Grund-
lage beruhe als die Rache; schon die obenerwähnte Idee des Gottesrechts hatte in dieser Be-
ziehung eine Wendung herbeigeführt: Strafe um der Gottheit, Strafe um der Menschheit
willen. Auf diesem Wege hat das Recht der christlichen Völker die Blutrache überwunden und
überall das staatliche Strafrecht als leidenschaftslose Ausübung der Gerechtigkeit eingeführt.
Lange Zeit zwar gelten noch einige Ausflüsse der Blutrache weiter, und eine Zeitlang steht das
Leben im Widerspruch mit dem Recht, wie ja z. B. noch Dante die Blutrache als etwas Natür-
liches, der Familie Zukommendes ansieht, und wie noch heutzutage, sechs Jahrhunderte nach
Dante, drei Jahrhunderte nach Shakespeare, manche nicht begreifen können, warum Hamlet
sich nicht zur Blutrache entschließt!
§ 46. Moderne Probleme 1.
Die heutige Welt steht noch auf der Grundlage des Vergeltungsrechts; die Angriffe hier-
gegen und die Versuche, die Strafe auf den sogenannten Zweckgedanken zu bauen, d. h.
auf utilitare, von der Gerechtigkeit abliegende, mit der Schuld nicht im Zusammenhang stehende
Gründe, haben es nicht zu erschüttern vermocht. Die Bestrebungen heutiger Zeit gehen viel-
mehr dahin, durch Individualisation der Strafe den Gedanken der Gerechtigkeit reiner und
vollkommener zu verwirklichen und durch andere, neben der Strafe einhergehende Mittel die
Quellen des Verbrechens zu verstopfen und, um dies ausgiebiger zu tun, die im Volksleben
mächtigen vergiftenden Keime kennen zu lernen. Namentlich die Zucht der Jugend ist ein
wesentlicher Faktor, mit dem sich der Staat zu befassen hat; in ihr ruht vielfach das Heil der
Zukunft; daher die moderne Jugendfürsorge, die zunächst in Chicago und im Staate Colorado
erwachsen ist, jetzt in allen Kulturstaaten, auch bei uns, eine eifrige Pflege erfährt. Es handelt
sich hier darum, die Strafe völlig hinter den Erziehungs- und Besserungsbestrebungen zurück-
treten zu lassen :. Ein anderes Ziel ist die strenge Ausscheidung der Unverbesserlichen aus der
Gesellschaft: dieser Zweck kann am besten durch Verbrecherkolonien erreicht werden.
2. Prozeß.
8 47. Prozeß und Selbsthilfe.
Der Prozeß ist eine Einrichtung, welche dahin abzielt, das Recht, gegenüber den Hemm-
nissen des menschlichen Willens, nicht durch Privattätigkeit, sondern durch Hilfe des Staates
zu verwirklichen. Ursprünglich macht der Mensch keinen Unterschied, ob die Hemmnisse des
Rechts von Naturwesen oder von Menschenhand erfolgen 3, und er betrachtet es als selbst-
verständlich, daß der Berechtigte auch die Befugnis habe, den entgegenstehenden menschlichen
Willen zu beugen.
Die Selbsthilfe ist ursprünglich, sie ist allgemein und gilt dem Menschen als das Natür-
liche; denn die Beschränkung der Rechtsverwirklichung auf gewisse Mittel hat etwas Künst-
liches und muß durch besondere Gründe gerechtfertigt werden. Die Rechtfertigung aber ergibt
sich aus den Nachteilen der Selbsthilfe; sie ergibt sich aber auch aus der Sonderstellung des mensch-
lichen Willens gegenüber den Naturkräften.
1 Moderne Rechtsprobleme S. 19 f., Gedanken über die Ziele des heutigen Strafrechts
(1909).
* Bgl. darüber Mack (Übersetzt von Elsa Schmidt) im Archiv für Strafrecht B. 58
S. 17f. Weitere Nachweise demnächst im Arch. f. Strafrecht.
* Einführung in die Rechtswissenschaft S. 174.