Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

J. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 59 
Verlehr gegen die Ordnung und Zucht von Familie und Geschlechtsgemeinschaft verstieß und 
man daher von Totems halber einwirkte, um eine Lösung der Streitigkeiten zu erzielen. 
Ein ganz neues und wichtiges Element in der Entwicklung aber war der Einfluß des 
Gottesrechts; der Gedanke, daß die Gottheit tätig sei, um Recht von Unrecht zu unter- 
scheiden, führte zu neuen Bildungen. Schon bei Naturvölkern finden sich die merkwürdigen 
Einrichtungen der Rechtsbrüderschaften, d. h. der religiösen Vereine, welche bestimmt sind, den 
göttlichen Willen in bezug auf das Recht zwangsweise durchzuführen; es sind dies Erscheinungen, 
wie wir sie in unseren Kolonien kennen, als Dukduk, Balum, Kani bei den Papuat, als Egbo in 
Kamerun, — indem Leute in phantastischer Tracht plötzlich hereinbrechen und strafend und 
wiederherstellend das Recht verwirklichen. Nach Entwicklung des Priestertums mußte die Sache 
eine neue Gestaltung annehmen: die Priester bemächtigten sich des Rechts, sie bildeten die 
Rechtssätze und lehrten sie ihren Zöglingen. Aber noch mehr: sie rührten an die Gottheit, um 
im einzelnen Fall die Wahrheit und die richtige Lösung zwischen Recht und Unrecht zu er- 
kunden. Was wir heutzutage durch die schwierigen Mittel des Beweises zu erreichen bestrebt 
sind, indem wir nach rationellen Grundsätzen, nach den seelischen Gesetzen des menschlichen 
Erkennens zur Uberzeugung zu gelangen suchen, das geschah damals durch die Gottesprobe. 
Gottesprobe ist irgendeine Tätigkeit, um eine Entscheidung der Gottheit über 
Recht und Unrecht herbeizuführen; eine solche Gottesprobe ist insbesondere die Bahrprobe 
beim Mord, indem man vom Erschlagenen selbst, der unter die Geister eingegangen ist, die Ent- 
hüllung über den Mörder haben will. Diese Bahrprobe ist so natürlich, daß sie sich auf dem 
ganzen Erdboden findet; verschieden sind nur die Mittel, wodurch man den Geist des Ver- 
storbenen zum Sprechen bringt und sich mit ihm in Verkehr setzt. Bald legt man sich mit dem 
Kopf auf die Brust des Leichnams und hofft, im Traum die Offenbarung zu erlangen; bald 
trägt man den Leichnam und glaubt, wenn der Name des Mörders gesprochen wird, durch ein 
plötzliches Zucken, durch einen Nervenkrampf von dem Toten die Erklärung zu erhalten, daß 
der so benannte Mensch der Mörder ist; bald beobachtet man die Richtung, welche der Rauch 
nimmt, den man auf dem Grabe entfacht, indem man annimmt, daß die Seele des Ver- 
stocbenen unmittelbar nach der Richtung ziehe, wo der Mörder weilt, und daß sie auf solche Weise 
den Flug des Rauches bestimme. 
Noch idealer ist das Los-Ordal: indem man entweder das Los wirft oder sonst irgend- 
wie den Zufall spielen läßt, um Wahrheit oder Unwahrheit zu erkennen. Die Völker sind un- 
gemein erfinderisch in derartigen Gestaltungen der Zufallsfügung. Ganz besonders ideal ge- 
dacht, aber sehr gefährlich, weil nicht nachzuprüfen, ist die sogenannte Seherschau, indem 
der Priester als Seher auf irgendeine Weise den Täter erkennt, sei es nun durch Erleuchtung 
im ekstatischen Traum, sei es durch ein Bild im Spiegel oder in der Wasserwelle. Diese Seher- 
schau hängt zusammen mit der gleichfalls religiösen Einrichtung der Auguration, indem 
man auch die Zukunft auf solche Weise zu erforschen strebt. Auguration für die Zukunft 
und Gottesprobe für die Vergangenheit beruhen auf derselben Geistesverfassung. Manche 
Völker haben das eine, andere das andere beibehalten. Zwei so nüchterne Völker, wie die 
Römer und die Chinesen, weisen keine Gottesprobe mehr im Prozeß auf, aber sie wahren die 
Auguration, die Römer allerdings unter überwiegend etrurischem Einflusse. Dagegen findet 
sich die Gottesprobe als Seherschau ebenso bei den Polynesiern und bei den Araukanern, wie 
bei den Afrikanegern; allerdings bei den letzteren so, daß man der Seherschau des Oganga 
nicht ohne weiteres traut, sondern dem durch den Seher Bezichtigten das Recht gibt, sich auf ein 
Gottesurteil (meist Giftordal) zu berufen. 
Eine neue Entwicklung nimmt die Gottesprobe an, wenn sie zum Gottesurteil 
wird. Dies ist eine Gottesprobe, bei welcher entweder beide Parteien oder die eine, 
gewöhnlich der Beklagte, mit gewissen Naturmächten in Verbindung gebracht wird; dann kommt 
es darauf an, wie er diese Einwirkung besteht. Ganz allgemein auf dem Erdball ist die Probe 
des Wassers durch Untertauchen, indem diejenige Partei Recht bekommt, die es eine bestimmte 
Zeit aushält; die Probe des Feuers, indem derjenige obsiegt, der ohne wesentliche Verletzung 
sich dem Feuer unterwirft, sei es, daß er durch das Feuer wandelt, sei es, daß er ein heißes 
1 Vgl. beispielsweise Z. f. vergl. Rechtsw. XIV S. 383 f.
	        
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