60 I. Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte.
Eisen, eine heiße Kugel usw. in der Hand trägt oder die Hand in siedendes Wasser oder Ol taucht.
Aber auch das Giftordal ist sehr verbreitet; wir finden es in Indien wie in unseren afrikanischen
Kolonien: die Partei muß das Gift zu sich nehmen; wenn sie es gut erträgt, ist sie gerechtfertigt;
wenn sie ohnmächtig und besinnungslos wird, ist sie besiegt und überwunden. Auch das Ordal
der Wage treffen wir in Indien, indem der Angeklagte zweimal gewogen wird, das zweitemal,
nachdem er seine etwaige Schuld auf sich genommen hatz ist er schuldig, so wiegt er das zweite-
mal schwerer. Ebenso die verschiedenen Proben mit Tieren, z. B. das Schlangen- und Krokodil-
Ordal in Afrika usw.
Eine besondere Kategorie bildet die Probe mit Naturdingen, bei welchen nicht die Naturkraft
des Wesens, sondern eine künstlich eingepflanzte geistige Macht wirkt, so das Fluchwasser-
Ordal der Juden, wo die des Ehebruchs bezichtigte Frau Wasser trinken mußte, in welches ein
Pergament, mit Flüchen beschrieben, gelegt war; man glaubte, daß der Schuldigen der Leib
aufschwellte und berste. Sodann das Ordal des geweihten Bissens, das sich bei den Inka-
Peruanern findet, indem man eine geheiligte Speise zu sich nimmt, nachdem man seine Un-
schuld beteuert hat u. a.
Dieses Gottesurteil bietet insofern einen Fortschritt gegenüber der unpersönlichen Gottes-
probe, als die Persönlichkeit der Parteien, vor allem die des Beklagten, mit ins Spiel kommt;
die Folge ist, daß doch nicht bloß die Naturkräfte, die mit dem Rechte nichts zu tun haben, ent-
scheiden, sondern mehr oder minder die Macht der Überzeugung des Beklagten von Recht oder
Unrecht Bedeutung gewinnt und die seelische Kraft des reinen oder belasteten Gewissens wirksam
wird. Noch mehr wird dieses Element von Erheblichkeit bei denjenigen Gottesurteilen, bei
denen eine bloße Seelenäußerung des Angeklagten, z. B. ein Erzittern, ein Erblassen, die Ent-
scheidung gibt.
Aber noch ein weiteres seelisches Element tritt hier in Wirksamleit: das Unterliegen beim
Gottesurteil soll vielfach schwere geheimnisvolle Folgen nach sich ziehen; wer sich der Gottheit
unterwirft, indem er sein Recht beteuert, der hat nicht nur zu gewärtigen, daß sich die Gott-
heit von ihm abkehrt, sondern ihn erwartet Fluch und Verderben. Man denke an die furchtbare
Folge des Fluchwassers, des geweihten Bissens! Daher wird in den meisten Fällen der Schuldige
sich der Probe nicht unterwerfen, er wird gestehen, er wird sich unterwerfen. Man hat daher
das Vertrauen, daß der Schuldige sich entdeckt. Für den Unschuldigen aber ist ein Ordal der
letzterwähnten Art die letzte Zuflucht vor den ihn belastenden Verdachtsmomenten.
Eine neue Entwicklung aber wird angebahnt, wenn jemand sich zwar einer Naturkraft
verschreibt, aber so, daß der Erfolg erst in der Zukunft eintritt; z. B. jemand beteuert seine
Unschuld und ruft Sonne, Meer, Schlangen usw. als Zeugen an; man glaubt nun, daß, wenn
er unrecht hat, diese Wesen ihn in kurzer Zeit angreifen oder gar hinwegraffen; und so ist es
auch bei Kulturvölkern, insbesondere in Indien, üblich, daß man die Hand auf den Kopf des
Kindes legt und ausspricht, das Kind solle sterben, wenn man Falsches sage. Man wartet nun
einige Zeit ab, und wenn diese Zeit ohne Unheil verstreicht, so ist der Beklagte gerechtfertigt.
Noch weiter in der Vergeistigung gehen diejenigen Selbstverwünschungen
und Selbstverfluchungen, die erst in unbestimmter Zeit, wohl erst im
Jenseits in Erfüllung gehen sollen. Hier konnte man natürlich nicht mehr auf den Ausgang
warten, um zu wissen, ob der Schwörende gerechtfertigt oder nicht gerechtfertigt ist; daher
änderte man die Einrichtung dahin: nicht ein künftiger Erfolg soll den Schwörenden rechtfertigen,
sondern schon der Schwur allein. Auf diese Weise entwickelte sich die Selbstverwünschung,
der Eid, geleistet auf einen Stab, der mit Verwünschungsformeln bedeckt war. Dieser Eid
ist der einzige Rest, der uns aus den Zeiten des Gottesurteils noch geblieben ist, und er spielt
noch in unserem jetzigen Prozeß eine große Rolle. Auch heutzutage gilt der Eid vielen noch
als eine Selbstverwünschung und Selbstverfluchung für den Fall der schuldhaften Unrichtig-
keit; immer mehr aber gibt er diesen geschichtlichen Charakter auf und wird zu einer feierlichen
Versicherung, bei deren schuldhafter Unwahrheit schwere Strafen eintreten; er ist also nicht
mehr ein Verwünschungsmittel mit einem Wechsel auf das Jenseits, sonderm eine feierliche,
mit schwerer eventueller Straffolge verbundene Erklärung.