J. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 61
8 49. übergang zum rationellen Prozeß 1.
Die wichtigste Entwicklung des Prozesses ist die, welche diese religiösen Momente abstreift
und vom Gottesprozeß zum rationellen Menschenprozeß führt. Die Gottesprobe fällt weg;
der Eid besteht noch, aber mit ganz anderer Bedeutung; und wesentlich für die Ent-
scheidung ist nicht die Stimme Gottes, sondern die Überzeugung des Richters; man nimmt an,
daß es dem Wesen der Gottheit nicht entspreche, in jedem einzelnen Falle nach menschlichem
Belieben hervorzutreten. Dies hat dann auch die weitere Folge, daß der Prozef sich vereinfacht;
während er sich nämlich bisher, angesichts der göttlichen Majestät, in rituellen Formen ab-
spielte, so werden nun einfache Erklärungen und Gegenerklärungen abgegeben, bei denen es
nur bedeutsam ist, daß man sich klar ausdrückt nicht daß man sich besonderer Wortformen bedient.
Die Entwicklung wurde durch das Häuptlingsrecht bedeutend gefördert; viel-
fach lagen die Häuptlinge im Kampfe mit der Priesterschaft, und es war ihnen sehr wenig
erwünscht, wenn die Priester durch ihre ausschließliche Herrschaft über den Ordalismus ihnen
Hemmnisse bereiteten und eine ihnen unangenehme Entscheidung herbeiführten. Im Inter-
esse des Häuptlingtums war es darum, die Gottesurteile möglichst beiseite zu schieben, nament-
lich auch den Indizienbeweis im höchsten Maße zur Geltung zu bringen.
So hat sich die Entwicklung bald schneller, bald langsamer vollzogen. Bei einzelnen
Bantus z. B. hat das Häuptlingsrecht schon frühzeitig einen ganzen modernen Prozeß herbei-
geführt; bei den Germanen aber haben sich wegen ihres tiefen religiösen Sinnes die Gottes-
urteile außerordentlich lange erhalten. Eine der letzten Formen des Gottesurteils war der
Zweikampf, der im 13. Jahrhundert allmählich erloschen ist. Schon vorher erwies sich gerade
dieses Ordal dem Verkehr als unbequem, und namentlich die Kaufleute suchten sich ihm zu ent-
ziehen, indem sie sich entweder besondere Freiheiten erbaten oder eine eigene Handelsgerichtsbar-
keit einführten. In der Handelsgerichtsbarkeit aber wurde der rationelle Prozeß wesentlich
gefördert; wesentlich gefördert wurde er auch durch die Möglichkeit, Erklärungen mittels der
Schrift festzuhalten und auf solche Weise der Vergänglichkeit zu entziehen, so daß sie beliebig
wieder vorgelegt werden konnten: so entstand der rationelle Urkundenbeweis.
Außer den Urkunden kommen insbesondere die Zeugen in Betracht. Der Zeugenbeweis
hatte seine Grundlage in der Eideshilfe: der Schwörende mußte früher vielfach seine Verwandten
herbeiziehen, damit sie ihre Uberzeugung von der Richtigkeit seines Eides eidlich erklärten; seine Aus-
sage hatte nur Wirksamkeit, wenn sie zur Familienaussage wurde?; und als sich das Familen-
band lockerte, konnte man auch Freunde und Bekannte, ja selbst ganz fremde Personen zur Hülfe
nehmen. Die Eideshelfer beschworen nicht die Tatsache, sondern ihre Überzeugung von der
Richtigkeit der Aussage. Mit der Zeit aber gewannen gerade diejenigen Eideshelfer eine besondere
Bedeutung, welche aus eigener Wahrnehmung schwören konnten; so wurden die Eideshelfer
zu Zeugen. Die Zahl der Eideshelfer war von alters her fest bestimmt. Daraus hat sich bis
in das 19. Jahrhundert hinein die Beweistheorie erhalten, die darin bestand, daß der Richter
eine Tatsache nur dann annehmen dürfe, aber dann auch annehmen müsse, wenn sie von
mindestens zwei Zeugen bekundet werde. Außerdem blieb in manchen Rechten folgendes
Verhältnis des Eides zum Zeugenbeweis bestehen: man konnte die Tatsache durch Zeugen be-
weisen oder aber den Eid des Gegners verlangen, d. h. man konnte die Sache auf den Eid des
Gegners ankommen lassen oder ihm den Eid durch Zeugnis verlegen; Zeugenbeweis und
(eventueller) Eid waren vielfach unverträglich, der Kläger mußte zwischen beiden wählen.
So ist uns der Eid geblieben; im übrigen ist es die Charakteristik unseres Prozesses, daß der
Richter die Befugnis hat, nach rationellem Befinden und Forschen zu handeln. Unsere jetzige Ge-
staltung des Prozesses sucht das wichtige Ziel der Rechtsverwirklichung durch Appell an die
Vernunft des forschenden Geistes zu erreichen. Natürlich ist dies nicht ohne Folgen für die
Entwicklung des Volkes; denn hierdurch wird die Kraft der Nation gesteigert und das mensch-
liche Einzelwesen auf eine höhere Stufe gesetzt, und so ist das Recht hier wie sonst ein Bildungs-
mittel des Volkes, eine Schule der Menschheit.
1 Grbuch der Rechtsphilosophie S. 172 f., Einführung S. 175.
I Zeig Eidckzöhilfe imchgegihnaatxiiphen Recht glsene batanunt; über die Eideshilfe im ägyp-
tischen, griechischen Recht, bei den Albanesen und im Islam vgl. Kohler und Ziebarth,
Recht von Gortyn S. 82f., 128.