Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

A. Grundlagen. 
§ 1. Rechtsphilosophie und Naturrecht. 
Die Rechtsphilosophie ist ein Zweig der Philosophie des Menschen, d. h. derjenigen Philo- 
sophie, welche die Stellung des Menschen und der menschlichen Kultur in der Welt und im Welt- 
getriebe zu ermitteln hat. Wie die sonstigen Kulturäußerungen des Menschen in die Höhe der 
Philosophie erhoben werden, indem man ihre Bedeutung im Weltganzen zu erforschen sucht, 
so auch das Recht. Die Rechtsphilosophie hat daher den Menschen als Kulturträger ins Auge 
zu fassen, und da die Kultur in stetem Fortschritt begriffen ist, wenn Welt und Menschheit nicht 
veröden soll, so hat die Rechtsphilosophie die Aufgabe, das Recht als ein sich stets entwickelndes 
und fortschreitendes zu erkennen. 
Es war daher seinerzeit nichts verkehrter und unphilosophischer als die Meinung, die Rechts- 
philosophie habe ein Naturrecht, ein ewig richtiges Recht zu erforschen und gleichsam von den 
Sternen herunter zu holen. Man verkannte vollständig, daß die Kultur und die Kulturäuße- 
rungen etwas anderes sind als die Naturgesetze, die sich stets gleich bleiben. Allerdings beruht 
auch der ganze Mensch und die ganze menschliche Entwicklung schließlich auf animalischen und 
seelischen Gesetzen. Aber aus diesen Gesetzen entspringt infolge der steten neuen Mischung 
der Kräfte ständig etwas Anderes und Neues, und es wäre dieselbe Verwechselung, aus der 
Einheit der menschlichen Natur auf ein stets gleich bleibendes Recht zu schließen, wie wenn man 
etwa annehmen wollte, daß, weil die Naturgesetze die gleichen bleiben, auch die Naturerscheinungen 
sich niemals vermannigfaltigen könnten. 
Die Anschauung von dem ewigen Rechte war mithin ein Grundirrtum; sie wäre nur von 
der Voraussetzung aus zu rechtfertigen, daß der Mensch sofort vollkommen geschaffen worden 
sei und die Bestimmung habe, stets auf der gleichen Vollkommenheit zu bleiben, also von der 
Voraussetzung, daß der paradiesische Zustand der dem Menschen entsprechende und angemessene sei. 
Dies hat seinerzeit die theologische Wissenschaft angenommen, und von hier aus hatte es einen 
guten Sinn und Zusammenhang, an ein von Gott eingepflanztes Recht zu glauben, das höchstens 
infolge des Sündenfalles verloren worden sei 1. Ließ man aber diese theologische Vorstellung 
1 Das Naturrecht findet sich schon in der Vorsokratischen Zeit; auch die Sophisten erörtern die 
Frage über das Gerechte und das Nützliche. Seine Weiterentwicklung trat ein durch Aristoteles; durch 
die Stoa ist es in das römische Recht gelangt. Die Scholastik übernahm es, allerdings blieb sie fern von 
der Erstarrung der spätern. Über das Naturrecht im Altertum vgl. Burle, Notion de droit naturel 
dans Fantiquité * (1908), Salomon, Der Begriff des Naturrechts bei den Sophisten, 
SavignyZ. XXXII, S. 129. Thomas von Aquin nimmt zwar eine lex seterna und eine aus der 
lex seterna stammendbe lex naturalis an, Summa theol. 1. 2 qu. 91 a. 1—3; er nimmt auch an, daß die 
lex naturae im Grund allen gemeinschaftlich sei, 1. 2 qu. 94 a. 4, jedoch mit Ausnahmen; er glaubt, 
daß der lex naturalis nicht nur einiges zugesetzt, sondern von ihr mitunter auch etwas gestrichen 
werden könne: nonnulla propria subtrahi, quse legis observantiam pro temporum varietate im- 
dire possent, 1. 2 qu. 94 a. 5. Noch deutlicher spricht sich in diesem Sinne der große Schüler 
s Thomas, Dante, aus, in einer Stelle, die ich bereits anderwärts erwähnt habe (Monarchia 
I 16): Habent namque nationes, regna et civitates inter se proprietates, quas legibus differen- 
tibus regulari oportet. Est enim lex regula directiva vitae. Aliter qduippe regulari oportet 
Scythas, qui, extra septimum clima viventes et, magnam dierum et noctium inaequalitatem 
patientes, intolerabili quasi algore frigoris premuntur, et aliter Garamantes, qui, sub aequinoc- 
tiali habitantes et cosequatam semper lucem diurnam noctis tenebris habentes, ob aestus asris 
nimietatem vestimentis operiri non possunt. Dazu die alsbald zu erwähnende Stelle aus dem 
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