4 I. Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte.
fallen, so hatte die Jdee von einem eingepflanzten ewigen Recht gar keinen rationellen Boden,
so rationalistisch sie sich auch gebärdete; denn sie widersprach dem Menschenleben als einer Kultur-
erscheinung, sie ging davon aus, daß für den Menschen nur ein und dieselbe Norm passe, und daß
ihm nur ein und dieselbe Norm angemessen sei. — als ob die Kultur nicht stets das Bedürfnis neuer
Normen erzeugte und als ob der Kulturfortschritt etwas Nebensächliches wäre, was das Wesen
des Menschen nicht berührte. Es ist der nämliche Irrtum wie der, der an eine Weltsprache
glaubte, so daß man den babylonischen Turmbau zu Hilfe nehmen mußte, um die Verschieden-
heit der Sprachen zu erklären, während doch
Nullo effetto mai razionabile,
Per lo piacer uman che rinnovella,
Seguendo il cielo, sempre fu durabile.
Dante. Paradiso XXVI 127 ff.
Das vorher mit vieler Diskretion behandelte Naturrecht erstarrte, als es im 17. Jahr-
hundert Hugo de Groot (Grotius) zu einem System verarbeitete, das von nun an
seinen Siegeszug über die Länder nahm 1. Eine Reihe der bedeutendsten Köpfe huldigte ihm:
Hobbes, Pufendorf, Leibniz, Thomasius sind von ihm ausgegangen, und
in Wolf fand es seinen letzten bedeutenderen Ausläufer und seine letzte, allerdings bereits
sehr seichte und versandete Gestaltung 2.
§ 2. Rechtsphilosophie und Rechtspostulate.
Die Zerstörung des Naturrechts war die große Tat Hegels; seine Entwicklungstheorie,
welche, im Gegensatz zu dem stets Gleichbleibenden, ein ständig Wechselndes und sich Ent-
faltendes annahm, mußte von selber einem jeden Naturrecht, d. h. jedem ewigen Vernunft-
recht, den Krieg erklären. Dazu kamen die Ergebnisse der Rechtsgeschichte, vor allem aber der
vergleichenden Rechtswissenschaft, denn diese zeigte uns eine ungeheure Rechtsentwicklung,
von der man früher keine Ahnung hatte; sie zeigte rechtliche Einrichtungen, die den unsrigen
spornstreichs widersprachen; sie zeigte Bildungen, die von der unfrigen ebenso abweichen wie
etwa die Formen der Bantusprache vom Griechischen. Die Annahme, daß alles dieses Recht
nichts gewesen sei als lächerliche Verirrung, erwies sich als so ungeschichtlich und ethnographisch
verkehrt, daß darüber eine weitere Erörterung gar nicht mehr mäglich war, ebenso verkehrt als
wenn man die Sprache der Rothäute als ein zusammenhangloses Gemisch erklären wollte,
während es doch sicher ist, daß sie eine Sprache von der größten Feinheit und der scharfsinnigsten
Gestaltung darstellt. Mithin mußte man zu der Uberzeugung kommen, wie verschieden das
Paradiso. Damit war eine Höhe der Betrachtung gewonnen, der gegenüber das Naturrecht bis
zu Hegels Zeit lediglich einen Rückschritt bedeutet. Über das thomistische Naturrecht vgl. auch
Haring, Recht- und Gesetzesbegriff in der katholischen Ethik S. 30 f. Es hatte jedenfalls die
goße Bedeutung, ein Schutzwall zu sein gegen das Einbrechen der Herrscherwillkür, welche alles
iebige als Recht bezeichnen mochte (Voluntarismus des Duns Scotus). Bgl. mein Lehrbuch der
Rechtsphilosophie S. 3 ff. Vgl. aber auch schon Leibniz, Möôditation sur la notion commune
de la justice, der deshalb lebhaft gegen Hobbes polemisiert ([Leibniz, Hauptschriften zur Grund-
legung der Philosophie, übersetzt von Buchen au-Cassirer II S. 506.
1 Allerdings nicht ohne wesentliche Bekämpfung, namentlich von theologischer Seite, welche
das Spstem Groots als impium ac absurdum bezeichnete, so Valentin Alberti. Der be-
deutendste Gegner, der bereits historischen Sinn zeigt, ist John Selden, de jure naturali et
gentium juxta disciplinam Ebraeorum (1640). Über ihn Sternberg, Z. f. vgl. Rechtsw. XIII
S. 266 6 Über einige weitere Gegner vgl. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie
8* Die wichtigsten Naturlehrer sind: Johann Oldendorp 1480—1567; Johann
Bodinus 1530—1596; Johann Althusius 1557—1638; Hugo Grotins 1583—1645
(De jare belli ac pacis 1625); Thomas Hobbes 1588—1679 (De eive, Leviathan); Samnel
Pufen dorf 1632—1694 (De jure naturae et gentium, de officio hominis et civis, Monzam-
bano); Spino za 1632—1677 (Tractatus theologico-politicus 1670, tractatus politicus 1677);
Locke 1632—1704 (Two treatises of government 1689); Leibniz 1646—1716; Thoma-
sius 1655—1738; Wolf 1679—1754 (Jus naturae 1740). Dazu noch eine Reihe von Rechts-
philosophen des 19. Jahrh., wie Zachariä, Bauer, Schilling, v. Rotteck, welche mehr
oder minder der lenhet anheim gefallen sind und dies auch verdienen. Üüber das Natur-
recht des 16. und 17. Jahrh. vgl. auch Solari, Scuola del diritto naturale (1904).