Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

1. H. Brunner, Quellen und Geschichte des deutschen Rechts. 79 
Umgebung bildeten, zu bewaffnen und aus ihnen eine Schar von Privatsoldaten zu bilden. 
Die Ministerialen des Königs und die servi casati des Fiskus erlangten das Wergeld und die 
Stellung der Halbfreien. Allgemeine Vorrechte hatten auch die Knechte der Kirche. Die 
unterste Stufe der Unfreien bezeichnet der Ausdruck mancipia. Diese konnten wie Fahrnis 
veräußert werden. 
Die rechtlichen Funktionen der Sippe standen jetzt fast allenthalben nicht mehr dem agna- 
tischen Geschlechtsverbande, sondern der Blutsverwandtschaft überhaupt zu und erfuhren in 
dieser Zeit der erstarkenden Staatsgewaolt eine zunehmende Abschwächung. Die Fehde zum 
Zweck der Rache wurde zunächst durch das Verbot gewisser Rachetaten und durch die Einengung 
des ihr ausgesetzten Verwandtenkreises beschränkt, bis endlich die Karolinger die Neuerung 
anordneten, daß in den Fällen, wo das Volksrecht die Fehde noch erlaubte, die fehdelustigen 
Parteien von den öffentlichen Beamten zum Sühnevertrag gezwungen werden konnten durch 
den amtlichen Befehl, die Sühne zu empfangen bzw. zu leisten. Die Haftung der Sippe für 
das verwirkte Wergeld muß bereits in dieser Periode bei verschiedenen Stämmen, insbesondere 
bei den Oberdeutschen, verschwunden sein. Der Eid mit Helfern brauchte, von bestimmten 
Ausnahmefällen abgesehen, nicht mehr mit Blutsverwandten geschworen zu werden. Die 
Vormundschaft der Sippe wurde durch die Rechte des geborenen Vormundes auf eine ober- 
vormundschaftliche Stellung beschränkt, während eine solche auch die Staatsgewalt wenigstens 
theoretisch in Anspruch nahm. Dem Festhalten des Grundbesitzes innerhalb der Familie setzte 
die Gesetzgebung im Widerspruch zu den alten Stammesrechten eine beschränkte Veräußerungs- 
freiheit des Besitzers entgegen. Im Widerstreite mit dem exklusiven Familiengeiste brachte 
die Kirche mit Hilfe des Staates ein ausgedehntes Verbot der Verwandtschaftsehen in Geltung. 
§ 12. Die Rechtsbildung. Innerhalb des fränkischen Reiches erhielt sich die Besonder- 
heit des Rechtes nach Nationalitäten und Stämmen. Auch bei den einzelnen Stämmen war 
das Recht kein einheitliches. So hatten bei den Franken die Salier, die Ribuarier und die 
Chamaven verschiedenes Recht. Bei den Sachsen war in manchen Beziehungen das Recht 
der Westfalen ein anderes als das der Ostfalen und Engern. In Friesland wichen die Rechte 
der Ostfriesen und der Westfriesen vielfach voneinander und von dem mittelfriesischen Rechte ab. 
Für die Wechselbeziehungen der Untertanen des fränkischen Reiches entwickelte sich das 
Prinzip der Persönlichkeit des Rechtes, demzufolge jeder nach der Lex originis, d. h. nach dem 
Rechte beurteilt wurde, in dem er geboren worden war. Besondere Grundsätze galten für die 
Entscheidung der Frage, welches Recht maßgebend sei, wenn an einem Rechtsverhältnisse 
mehrere Personen verschiedenen Geburtsrechtes beteiligt waren. Die Frau erwarb durch die 
Eheschließung das Stammesrecht, nach dem der Ehemann lebte. Die Kirche wurde nach römi- 
schem Rechte beurteilt. In Gegenden mit gemischter Bevölkerung, namentlich in Italien, 
wurde es Sitte, daß die Parteien vor Gericht und bei Rechtsgeschäften das Recht angaben, 
nach dem sie lebten, und daß diese Erklärungen (professiones iuris) in die Gerichts- und 
Geschäftsurkunden ausgenommen wurden. 
Wo die römische Bevölkerung dichter saß, lebte sie nach römischem Rechte. Dieses hat 
bei ihr eine ähnliche Brechung erfahren wie das von ihr gesprochene Latein. Bei den römi- 
schen Provinzialen entwickelte sich nämlich ein Vulgarrecht, welches, den Zuständen der Zeit 
angepaßt, sich als eine Fortbildung oder Entartung des reinen römischen Rechtes darstellt. Auch 
drangen germanische Institutionen in das Recht der römischen Bevölkerung, namentlich in das 
Familien= und Vertragsrecht ein. Hinwiederum haben schon in fränkischer Zeit die germanischen 
Stämme, die mit den Römern in engere örtliche Berührung traten, einzelne römische Rechts- 
anschauungen und Einrichtungen aufgenommen, nicht ohne sie selbständig umzubilden und 
fortzubilden. Die Sprache der Gesetzgebung und der Urkunden entlehnten sie durchweg den 
Romanen. Gleichwie diese unter dem Einfluß des Vulgarlateins steht, so diente auch bei der 
Aufnahme römischen Rechtsstoffes nicht das römische Recht der Rechtssammlungen, sondern 
das Vulgarrecht der römischen Provinzialen als Anknüpfungspunkt. 
Unter den deutschen Stammesrechten hat im fränkischen Reiche, entsprechend der herr- 
schenden Stellung der Franken, das fränkische Recht, und zwar unter den Merowingern das 
salische, später das ribuarische, die führende Rolle. Abgesehen von den königlichen Satzungen
	        
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