J. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 5
Recht ist und sein muß, und daß keine Gestaltung des Rechts ewige Dauer be-
anspruchen kann.
Man moöchte allerdings fragen, ob nicht der gesamten Rechtsentwicklung doch wenigstens
einige einheitliche Rechtsgrundsätze zu unterstellen seien, und ob nicht insbesondere gewisse
Sätze der Rechtspolitik für alle Entwicklungsperioden gleichheitliche Geltung verlangen können.
Man spricht insbesondere viel von den Wertschätzungen der Gerechtigkeit und namentlich
auch davon, daß Gleiches gleich behandelt werden müsse und die Rechtsordnung nicht eine Aus-
scheidung unter den Gleichwürdigen vornehmen dürfe, wodurch der eine bevorzugt und der
andere zurückgesetzt werde; es sind dies die bekannten Grundsätze der nikomachischen Ethik 7
Doch handelt es sich hier überhaupt nur um Schablonen, die erst durch die Anforderungen
der betreffenden Kulturperiode ausgefüllt werden können. Eine jede Kulturperiode hat für
sich zu entscheiden, wer würdig und unwürdig, wer schuldig und wer unschuldig, was gleich-
und was verschiedenwertig ist. Im ganzen laufen daher alle diese allgemeinen Vorschriften
auf den Gedanken aus: das Recht soll sich entwickeln nach Maßgabe der Kulturperiode und
nach den Anforderungen einer jeden Kulturstufe; diese aber verlangt natürlich, daß demjenigen
das Recht wird, dem die jeweilige Kultur das Recht zuweist, und sie verlangt, daß die Gleich-
wertigkeit durch Gleichberechtigung, die Verschiedenwertigkeit durch verschiedene Berechtigung
ausgedrückt werde. Eine Kulturperiode kann z. B. von dem Gedanken ausgehen, daß ver-
schiedene Menschenklassen eine verschiedene Stellung einnehmen und eine verschiedene Be-
tätigung im staatlichen Leben zu vollziehen haben, wie z. B. die höheren und niederen Kasten
der Hindus oder der Adel bei morgen= wie abendländischen Völkern; eine Kultur kann ferner
verlangen, daß die Träger religiöser Amter eine besondere Berücksichtigung finden und eine
gewisse Ausnahmestellung einnehmen; eine Kulturperiode kann wiederum In- und Aus-
länder sehr verschieden behandeln, den Ausländer sogar ganz rechtlos machen; eine Kultur-
periode kann den Einzelnen verantwortlich machen für seine Familie und die Familie für den
Einzelnen; sie kann bestimmen, daß auch schuldlose Verletzung zur Strafe führt; und derartige
Bestimmungen sind ebensowenig von der rechtlichen Betrachtung zurückzuweisen, als z. B. der
Satz unseres Rechts, daß, wenn der fremde Staat uns Anlaß zum Kriege gibt, wir berechtigt
sind, seine Heere zu dezimieren und seine Soldaten totzuschießen, soweit es die Zwecke unserer
Kriegführung erheischen. Von einer Einheitlichkeit des Grundprinzips ist daher keine Rede;
denn das Prinzip, daß jede Kulturordnung das ihr würdig Erscheinende würdig, das andere
unwürdig und unwert behandeln solle, will nichts anderes besagen, als daß jede Kulturordnung
eben eine Kulturordnung ist, womit nichts weiteres gewonnen wird?.
Vgl. auch d'Aguanno, Arch. f. Rechtsphil. III S. 71f.
* Was heutzutage von scholastischer Seite als Naturrecht erklärt wird, läuft auf solche Schab-
lonen hinaus. So namentlich der Jesuit Cathrein, Recht, Naturrecht und positives Recht:
jeder soll das Seine haben (S. 47 f.); das Recht gebe allgemeine Grundsätze, wie z. B. Verträge
müssen gehalten werden, aber welche Verträge im einzelnen zulässig seien, bestimme das positive
Recht; es sei ein natürliches Recht, das Eigentum zu verkaufen, das Gesetz aber könne „unter Um-
ständen den Verkauf gewisser Waren verbieten oder einschränken, wenn das zum Gesamtwohl
nützlich oder gar notwendig ist“ (S. 281—282). Mit anderen Worten: das Naturrecht kann A,
das positive Recht kann B sagen, denn wenn man den einen Vertrag oder Verkauf verbieten kann,
so kann man auch hunderte verbieten. Damit ist nichts getan. Kann man kraft des Naturrechts sagen,
ob die Schuldhaft oder die bloße Vermögenshaftung begründet ist? Ob die Eideszuschiebung oder
die Eideshilfe ein „richtiges Recht“ ist? Das haben schon ältere Denker besser gewußt. Vgl. z. B.
Avicenna (darüber Arch. f. Rechtsphil. II S. 469). Und daß man auf Grund eines ein-
gebildeten Naturrechts in Osterreich und Italien der Ehescheidung die größten Hindernisse be-
reitet hat, ist ein bedeutungsvolles Menetekel. Man hat auch behauptet, eine Vergleichung der
Rechte sei nicht möglich, ohne daß gewisse Institute gleichheitlich wiederkehrten, wie Eigentum,
Schuldverpflichtung, Erbrecht; das ist unrichtig: es gibt natürlich ein für allemal gewisse Beziehungen,
z. B. des Menschen zu den Sachen, des Menschen zum Menschen (Verhältnisse des Geschlechtsverkehrs,
Verhältnisse des Blutsbandes, Verhältnisse des Austauschverkehrs). Diese Beziehungen führen zu
einer Reihe von Typen, aber diese Typen bilden den Ausgangspunkt für die verschiedenfachsten
Rechte. Oder gibt es einen größeren Unterschied, als den des modernen Schuldrechts zu dem
den Menschen versklavenden Geiselrecht alter Zeiten? Daß man beides Schuldrecht nennt, ist
nur durch die geschichtliche Entwicklung gerechtfertigt. Und ebenso verhält es sich mit dem
Kommunismus der Eskimo oder den Lrverhültnissen der Bantus im Bergleich zu unserem
Eigentum. Über Cathrein vgl. auch Z. vgl. R. XXIV, S. 233, Arch. f. Rechtsph. V S. 637.