Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

94 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts. 
neben der Freiheit von Abgaben und Fronden schloß die fränkische Immunität auch die Gerichts- 
barkeit über die Immunitätsleute in sich, soweit sie einen finanziellen, rein fiskalischen Charakter 
hatte und die von jenen verwirkten Friedensgelder und Bannbußen in Frage kamen. Durch 
königliches Privileg ging die Immunität auf die Kirchengüter über, für die sie schon unter 
Ludwig I. als herrschende Regel erscheint. Durch das Benefizialwesen gelangten die weltlichen 
Großen in ihren Genuß, indem das Benefizium als Eigentum der Krone rechtlich den Charakter 
des Krongutes beibehielt. Die Immunität wehrte den öffentlichen Beamten, das Immunitäts- 
gebiet in amtlicher Eigenschaft zu betreten (Verbot des introitus), fiskalische Gefälle zu erheben 
(Verbot von exactiones), die Amtsgewalt unmittelbar gegen Immunitätsleute anzuwenden 
(Verbot der districtio). Den Kirchen wirkte sie seit karolingischer Zeit einen von persönlichen 
Schutzprivilegien des Königs unabhängigen höheren dinglichen Frieden, den die gefreiten Be- 
sitzungen der Kirche genossen. Der Immunitätsherr hatte die Gerichtsbarkeit über die Im- 
munitätsleute in causae minores. An ihn fielen die von ihnen verwirkten Gerichtsfälle. Bei 
Klagen Dritter hatte er, wie es scheint, ursprünglich seinen Hintersassen vor das öffentliche Gericht 
zu stellen; doch wurde es spätestens in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts Rechtens, daß 
Immunitätsleute von Dritten zunächst im Immunitätsgerichte belangt werden mußten. In 
Kriminalfällen blieb er nach wie vor verpflichtet, den Beklagten vor das Grafengericht zu 
bringen. Die Eigengerichtsbarkeit übte der Immunitätsherr durch einen besonderen Beamten, 
advocatus, Vogt, aus, der regelmäßig einen Teil (6) der den Immunitätsherren verfallenden 
Gerichtsgefälle bezog. Die Wahl der Vögte zog das karolingische Königtum in den Bereich seiner 
Verordnungen. Es behandelte sie nicht als reine Privatbeamte, sondern stellte sie unter die 
Kontrolle der Missi gleich den öffentlichen Beamten. Der Vogt sollte aus den freien Eigen- 
tümern der Grafschaft mindestens unter Mitwirkung des Grafen und des Volkes bestellt werden. 
Nachmals gelangten die Immunitätsbezirke zu territorialer Abgeschlossenheit durch Kauf, Tausch, 
Schenkung, Vergewaltigung oder endlich dadurch, daß den Herren die öffentliche Gewalt über 
die auf freiem Eigentum innerhalb des Bezirkes ansässigen Grundbesitzer übertragen wurde. 
Die fränkische Kirche war unter den Merowingern nationale Landeskirche und 
als solche dem König untergeordnet. Die Konzilien waren Nationalkonzilien, die der König 
berief oder mit seiner Erlaubnis zusammentreten ließ. Dagegen bestand keinerlei Oberhoheit 
des Papstes in Sachen der Kirchenverwaltung. Seit der Mitte des 8. Jahrhunderts trat ein 
Umschwung ein. Bonifazius organisierte die Christianisierung der ostrheinischen Stämme in 
unmittelbarem Anschluß an Rom. Die fränkische Kirche wurde — zunächst allerdings nur, 
soweit es dem König gefiel — unter das Papsttum gestellt. Der Staat, der das Christentum 
als politische Grundlage der Reichseinheit verwertete und förderte, übernahm rein kirchliche 
Aufgaben, wogegen die Kirche und die Geistlichkeit in den Dienst der unmittelbaren Staats- 
aufgaben gestellt wurden. Die damit herbeigeführte Verquickung zwischen Kirche und Staat 
außerte sich vorerst in einem gesteigerten Kirchenregimente des Königs. Dieser übte durch seine 
capitularia ecclesiastica das Gesetzgebungsrecht in kirchlichen Dingen. Karl der Große legte 
sich sogar das Recht bei, in Glaubenssachen selbständig zu prüfen und Beschluß zu fassen. Aber 
seit Ludwig I. büßte das Königtum diese leitende Stellung wiederum ein. Die Reichssynoden 
gerieten in Abhängigkeit vom Papste. In kirchlichen Kreisen begann man den Vorrang der 
geistlichen Gewalt vor der weltlichen zu betonen. Die großen kirchenrechtlichen Fälschungen. 
aus der Mitte des 9. Jahrhunderts arbeiteten in dieser Richtung. 
Die Besetzung des Bistümer bestimmte schon in merowingischer Zeit der Wille des Königs. 
Zwar galt theoretisch der Satz des kanonischen Rechtes, daß der Bischof durch Klerus und Ge- 
meinde zu wählen sei. Allein der Gewählte durfte nicht ohne königliche Bestätigung konsekriert 
werden. Oft beeinflußte der König die Wahl, oder er besetzte das Bistum durch einseitige Er- 
nennung. Diese wurde so sehr die Regel, daß es unter den Karolingern eines besonderen könig- 
lichen Privilegs bedurfte, wenn der Bischof (mit Vorbehalt der königlichen Bestätigung) gewählt 
werden sollte. Die Übertragung des Bistums geschah durch den König, und zwar schon im 
9. Jahrhundert unter Darreichung des Bischofsstabes. 
Nach den römisch-kanonischen Ordnungen war alles Kirchengut unveräußerliches Eigen- 
tum der Bischofskirche. Die Verwaltung stand im freien Ermessen des Bischofs. Dagegen 
vermochte eine abweichende germanische Rechtsanschauung im Anschluß an die Rechtsstellung
	        
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