Bürgerliches Recht. 11
unrettbar einem Gesindeverhältnis unterliegt, ist aufgegeben. In dieser Hinsicht hat schon
100 Jahre vorher die französische Umwälzung genügend vorgearbeitet, und schon der bereits
ins hundertjährige Jubiläum getretene Code civil hat das Zeichen der Neuzeit aufgepflanzt.
Aber es gibt auch keine Friedlosen, keine Geächteten mehr: keine staatliche Ordnung kann den
Menschen vogelfrei machen und ihm den Rechtsschutz entziehen. Was in dieser Beziehung noch
an altertümlichen Einrichtungen vorhanden war, wie bürgerlicher Tod usw., ist bereits im Anfang
des 19. Jahrhunderts ausgetilgt worden.
Der Einzelne kann zwar sowohl in seinem äußerlichen Leben als auch in seiner rechtlichen
Verfügung höheren Gewalten unterworfen sein, allein dies geschieht nur, soweit es der Zweck,
den man verfolgen will, erheischt, und unter möglichster Schonung seiner Persönlichkeit. Es
kann eintreten:
1. zu den Zwecken der Strafverfolgung und aus dringendem Interesse polizeilicher Ordnung 1;
2. zur Strafe bezüglich des Strafgefangenen;
3. zur Erziehung (als sog. Zwangserziehung), nach neuerer Anschauung auch zur Sicherung
der Gesellschaft;
4. im Interesse der Landesverteidigung durch Unterwerfung unter die Militärdienstpflicht;
es kann eintreten
5. im Interesse der Hygiene, der Eigenhygiene, wie bei Irrsinnigen, und der Fremdhygienc,
wie bei ansteckenden Krankheiten?; es kann
6. dadurch erfolgen, daß der Staat sogenannte Zwangsgenossenschaften gründet, d. h. unter
bestimmten Umständen erklärt, daß alle Personen eines bestimmten Kreises eine Ge-
nossenschaft bilden, welche den Einzelnen mehr oder minder beherrscht, aber stets nur
in einzelnen bestimmten Beziehungen. Ein Hauptfall dieser Art sind die Zwangsinnungen
der Gewerbeordnung, denen aber in zutreffender Weise die Festsetzung der Verkaufspreise
nicht zusteht, was sonst ihre Mitglieder in trustartige Abhängigkeit brächte, § 100q GewpO.
Wir verfolgen noch das System der Einzelwirtschaft und die Kartellbestrebungen einerseits
und der Staatssozialismus andererseits, welcher von Staates halber die Preise regelt und
die Produktionsweise vorschreibt, haben die Grundlagen der Einzelwirtschaft zwar ange-
griffen, aber bis jetzt nicht überwunden 5.
7. Im Arbeitsnormvertrag (Kollektivarbeitsvertrag) ringt sich bereits ein soziales Zwangs-
element zutage, welches den Einzelvertrag überwältigt. Doch gehört dieses speziell dem
Gewerberecht an. Hierher gehört endlich
8. die Unterwerfung unter Vormundschaft und Pflegschaft im Interesse des Minderjährigen
oder Entmündigten: diese Unterwerfung hat lediglich die Interessen des Bevormundeten
zum Zweck und soll nicht zur Ausbeutung oder überhaupt zur nutzbaren Auslbung durch
die Vormünder führen. Nur nebenbei können hier die Interessen der Familienangehörigen
mit in Betracht kommen, wie bei der Bevormundung wegen Verschwendung; und in der
elterlichen Gewalt und der damit verbundenen Nutznießung ist noch ein Überrest der alten
Familiengutsidee und der alten Tutela fructuaria zu erkennen.
Sonst gilt der Grundsatz, daß der Einzelne sich zwar in ein Unterordnungsverhältnis be-
geben kann, wenn er will, aber das ist sein freier Entschluß. Nun könnte allerdings auch eine
solche Selbstunterordnung zu einer Versklavung und Unfreiheit führen, und in unbedachten
Augenblicken und in Augenblicken der wirtschaftlichen Notlage könnte der Einzelne dazu vermocht
werden, sich in ein Verhältnis dauernder Abhängigkeit zu begeben. Eine derartige vertrags-
mäßige Unterjochung wäre unserem Ideal des Rechts widersprechend. Leider hat das Gesetzbuch
diesen großen Jdeeen nur unvollkommen entsprochen. Es gestattet allerdings nur eine zeitweilige
1 Uber die polizeilichen Maßregeln vgl. Preuß. Ges. v. 12. Februar 1850 fl 6. Über den
Angeschuldigten und Angeklagten gelten die Bestimmungen der Strafprozeßordnung. — Weitere
Einwirkungen sind nicht gestattet. Vgl. meinen Aufsatz über das Recht auf den Vollbart im Berliner
Tageblatt v. 25. Januar 1914.
* Dahin gehört auch die Sterilisation, die bereits in Amerika eingeführt ist, sich aber auch
auf den alten Erdteil verpflanzen wird; vgl. KGoltd. Arch. 61 S. 189 und meine Schrift: Recht
und Persönlichkeit S. 58. *
* Val. mein Werk über den unlauteren Wettbewerb (1914) S. 6 f., 12 f.