172 J. Kohler.
des Vorerben erfolgt: dieser kann noch fünfzig oder sechzig Jahre leben, aber doch hat dies seine
nahe Grenze; würde man hier die dreißig Jahre festhalten, so könnten Fälle eintreten, wo der
Nacherbe gar nicht mehr zur Hebung gelangt, selbst wenn er bereits zu Lebzeiten des Erblassers
am Leben gewesen wäre. Ein anderer Fall ist, wenn die Nacherbfolge eine Ausgleichung
unter Geschwistern herbeiführen soll, indem ein Geschwister des Vorerben als Nacherbe be-
stimmt wird (§ 2109 BG.). Auch hier sind schon durch die Umstände des Lebens der Nach-
erbfolge naheliegende Grenzen gesteckt.
Der mit der auflösenden Bedingung belastete Vorerbe hat allen Vermögensgenuß,
welchen die auflösende Bedingung zuläßt; er steht in dieser Beziehung tatsächlich einem Nieß-
braucher nahe und ist auch (den Nacherben gegenüber) mit ähnlichen Pflichten der sorgfältigen
Verwaltung belastet; doch haftet er mit Rücksicht auf die familiären Beziehungen nur für culpa
in concreto, 3§ 2116 ff., 2131 BGB. Aber auch ein Verfügungsrecht ist dem Vorerben eingeräumt,
denn die Lebensverhältnisse dulden bei so langgestreckten Beziehungen keine vollkommene Ge-
bundenheit. Ausgeschlossen ist eine Verfügung über Grundstücke (weshalb die Nacherbschaft
ins Grundbuch einzutragen ist) und durch Schenkungen, 3 2113 BGB., § 52 Grundb O. Vgl.
auch Schweizer GB. a. 490. Dazu kommt das Ersatzprinzip, wonach, was immer mit Mitteln
der Erbschaft erworben wird, Erbschaft wird.
Übrigens kann das Verfügungsrecht des Vorerben vom Erblasser erweitert, insbesondere
kann bestimmt werden, daß der Nacherbe nur das erhalten soll, was übrig ist?; in diesem Falle
hat der Vorerbe ziemlich freie Verfügung; unentgeltliche Zuwendungen sind allerdings auch
hier ausgenommen s, §§ 2136 f.
§ 122. Zur Legitimation des vermutlichen Erben gegenüber Dritten schuf das römische
Recht die bonorum possessio sine re“.
Der Prätor gab dem bonorum possessor prätorisches Eigentum an den körperlichen
Sachen; er gab ihm die actiones des Erben utiliter, d. h. mit einiger Formeländerung;
aber auch umgekehrt haftete der bomnorum possessor utiliter für die Erbschafts-
schulden und konnte daher mit einer utilis actio in Anspruch genommen werden.
Damit begegneten sich im Mittelalter germanische Sicherungsbestrebungen, und ein
Niederschlag derselben ist der preußische Erbschein (nach Gesetz vom 12. März 1869) und der
Erbschein des BG., der auf Grund einer Prüfung des Sachverhalts, insbesondere auch
auf Grund einer eidesstattlichen Versicherung des Antragstellers, vom Nachlaßgericht im Wege
der freiwilligen Gerichtsbarkeit nach vorheriger Prüfung erteilt wird 5 und zur Folge hat, daß
nicht nur
1. der im Erbschein Bezeichnete als Erbe vermutet wird 6, sondern auch
2. daß, wenn jemand in gutem Glauben mit dem Erbscheinsträger als Erben in Rechts-
oder Prozeßverkehr getreten ist, die Rechtswirkungen eintreten, wie wenn er mit dem wahren
Erben einen solchen Verkehr eingegangen hätte (§§ 2365 ff. BG.) 7. Eine Nacherbschaft ist
als beschränkendes Element in den Erbschein aufzunehmen, aber auch die Bestimmung, kraft
welcher der Vorerbe von der Beschränkung der Nacherbschaft ganz oder teilweise befreit ist,
1 Zugunsten der künftigen (wenn auch noch ungebornen) Nacherben, RG. 14. Okt. 1905,
9. März 1907 Entsch. 61 S. 355 und 65 S.
* Vgl. Kretzschmar, Sächs. Arch. E . 337.
* Daher kann eine Grundbuchüberschreibung auf bloßen Antrag des Vorerben nur dann ge-
schehen, wenn es sicher ist, daß es sich nicht um eine unentgeltliche Verfügung handelt, 5§ 2113,
2136, RG. 23. Februar 1907 Entsch. 65 S. 214; vgl. auch RG. 12. Juli 1905 Entsch. 61 S. 228,
RG. 3. Okt. 1908 Entsch. 61 S. 258, Kammergericht 10. Januar 1910 JZ3. XV S. 540.
Die ehemalige Pandektenweisheit war unfähig gewesen, die praktische Bedeutung der
bonorum possessio sine re zu erkennen. Vgl. darüber Lehrbuch 1
Liegt ein rechtskräftiges Urteil über das Erbrecht vor, so ist es Fur ten Nachlaßrichter natür-
lich insofern maßgebend, als es zwischen den Parteien wirkt (vgl. meine Abhandlung in der Fest-
schrift für Klein, S. 1 f.) — insofern, aber nicht weiter. Vgl. Kuttner, Jahrb. f. Dogm. 59
S. 393 f. Im übrigen hat das Nachlaßgericht die Erbfrage selbständig zu prüfen, Kam.G. 16. Juni
1902 Freiw. G. III S. 117 und § 2360 BG#B.
* Daher ist bonorum possessor stets nur der Erbe, nicht etwa der Käufer der Erbschaft oder
eines Erbteils (nach § 2033), R. 11. Oktober 1906 Entsch. 64 S. 178.
!* Das gleiche gilt nicht für den Unrechtsverkehr; wird jemand von dem Erbschaftshunde
gebissen, so kann er nicht den Erbscheinträger auf Grund des Erbscheines in Anspruch nehmen.