Verhältnis des Reichsprivatrechts zum Landesprivatrecht. 203
4. Die Ausnutzung und der Ausbau der im dritten Abschnitt des EG. oder
sonst vorgesehenen Vorbehalte. Hierunter fällt die Mehrzahl der Vorschriften in den Aus-
führungsgesetzen. Sie sind meist geordnet in der Reihenfolge, in welcher der dritte Abschnitt
des CE. die materiellen und speziellen Vorbehalte aufführt. Schon wegen Zeitmangels sind
leider die meisten Ausführungsgesetze an dem Versuch, die generellen Vorbehaltsgebiete
(Art. 59—76 EG.) durch umfassende Neuordnungen zu regeln, vorübergegangen und haben
sich mit Anpassungsvorschriften oder einzelnen klärenden und bessernden Bestimmungen be-
gnügt. Ausnahmen machen z. B. die Vorschriften über Gesinderecht in Bayern (A. Art. 15
bis 31), Württemberg (Anlage zum Aß.), Mecklenburg-Schwerin (Gesindeordnung vom
9. April 1899), über Nachbarrecht in Bayern (AG. Art. 62—80), über den Leibgedingsvertrag
n Bayhern (AG. Art. 32 48).
5. Die letzte, aber nicht die mindeste Aufgabe, die Klärung und Feststellung
des partikulären Normenbestandes, hat einen wesentlich formalen
Charakter. Die Rücksichten auf die Rechtssicherheit machten diese Feststellung zu einer
dankenswerten Aufgabe. Die Feststellung konnte in zweifacher Weise erfolgen: entweder
Auszählung aller landesrechtlichen Privatrechtsnormen, die neben dem BEGB. in Kraft blieben,
oder Aufhebung der einzelnen Vorschriften des Landesrechts, die durch das BGB. außer Kraft
treten.
Der erste Weg ist gar nicht gewählt worden. Mit Recht. War er doch zu umständlich,
und barg er doch die Gefahr, den Landesgesetzgeber gegen seine Absicht in Konflikt mit dem
Reichsgesetzgeber zu bringen; denn der Landesgesetzgeber kann die positive Gültigkeit seiner
Anordnungen gegenüber dem Reichsrecht und der von diesem gezogenen Grenze niemals aus-
sprechen. Dagegen bietet die zweite Methode große Vorzs#ge. Sie beseitigt Pyramiden ge-
setzlichen Schuttes, fördert die Ubersichtlichkeit und erstickt im Keime eine Unmenge Streit-
fragen. Zwar sind die mit dem Reichsrecht in Widerspruch stehenden Landesgesetze schon
an sich außer Kraft getreten, doch ist an der einzelstaatlichen Befugnis zur ausdrück-
lichen Aufhebung nicht zu zweifeln, da die Wirkung des Reichsrechts hiermit nicht angetastet
wird. Alle Gründe der Zweckmäßigkeit und die Interessen des rechtsuchenden Publikums sprechen
dafür, daß der Gesetzgeber diese Aufgabe, anstatt sie der Praxis oder Wissenschaft zu überlassen,
auf seine Schultern nimmt 1.
Jene Aufhebung versteht sich mit zwei Einschränkungen. Sie erfolgt zunächst un-
beschadet der Übergangsvorschriften aus dem Abschnitt 4 des E., da
deren Nichtaufhebung in ihrem Zwecke liegt. Diese Einschränkung ist auch von mehreren AG.
ausdrücklich betont, so von dem preußischen (Art. 89), während andere, z. B. Bayern (Art. 175),
Baden (Art. 39), sie als selbstverständlich nicht erst ausgedrückt haben. Dann aber ist die
positive Gültigkeit der von der Aufhebung unberührt gelassenen Bestimmungen
damit noch nicht ausgesprochen. Mögen sie nun absichtlich oder versehentlich vom Landes-
gesetzgeber nicht aufgehoben sein, dem Richter verbleibt Prüfungsrecht und Spflicht, ob sie
gegenüber der Vorschrift des Art. 55 bestehen können.
In den Landesteilen endlich, in denen das Gemeine Recht galt, konnte selbst von den
Staaten, welche die aufgehobenen Gesetze einzeln aufzählen, nicht in der gleichen Weise vor-
gegangen werden, weil es nicht kodifiziert ist. Indes ist daran nicht zu zweifeln, daß auch das
Gemeine Recht durch Art. 55 in 'seinen privatrechtlichen Bestimmungen aufgehoben ist, soweit
eben keine Vorbehalte schützend eintreten.
1 Das Verfahren, die einzelnen Gesetze und Gesetzesteile aufzuheben, haben die meisten
Bundesstaaten befolgt; z. B. Preußen (Art. 89 seines AG.); Bayern (Art. 1 und 175); Württem-
berg (Art. 283); Baden (Art. 39); Hessen (Art. 286); Mecklenburg-Schwerin (5 392); Strelitz
(* 349). Einen abweichenden Weg schlägtvdas sächsische AG. (5 53) ein, indem es die an sich vom
B#. aufgehobenen Bestimmungen nicht noch einmal formell aufhebt, vielmehr nur einzelne
Bestimmungen des sächs. BGB. als aufgehoben bezeichnet, die an sich durch die Vorbehalte des
E. gedeckt sind; ähnlich Sachsen-Weimar (5 249), Schwarzburg-Sondershausen (Art. 66, 67),
Schwarzburg-Rudolstadt (Art. 197) und die beiden Reuß (55 156 bzw. 142). — Sachsen-Altenburg,
Lippe,“ Waldeck und Hamburg enthalten sich überhaupt einer Bestimmung über die Aufhebung
von Landesgesetzen.