Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Zweiter Band. (2)

Internationales Privat-, Straf= und Verwaltungsrecht usw. 237 
oder solchen Vorschriften gegenüber selbst derogatorische Kraft ausüben kann, ist nach den all- 
gemeinen Vorschriften zu beurteilen, welche in jedem Lande über das Verhältnis des Gewohn- 
heitsrechtes zum Gesetzesrecht gelten. 
Infofern es nun früher ein gemeines, über die Grenzen der einzelnen Staaten hinaus- 
reichendes Recht gab, mußte auch ein allgemeines, nicht an die Grenzen des einzelnen Staates 
gebundenes Gewohnheitsrecht anerkannt werden, und in der Tat beruhen wichtige, jetzt auch 
in die Gesetzgebung ausgenommene Sätze, namentlich der Satz „Locus regit actum“, auf solchem 
allgemeinen Gewohnheitsrechte. Die fortdauernde Geltung desselben ist anzunehmen, in- 
sofern die Gesetzesbestimmungen und die aus ihnen zu entwickelnden Konsequenzen dem Ge- 
wohnheitsrechte nicht widersprechen, das Gewohnheitsrecht also, ebenso wie ein neu entstehendes 
Gewohnheitsrecht, Lücken des Gesetzes auszufüllen geeignet sst. 
Daneben verdient eine etwa in anderen Staaten bestehende konstante Jurisprudenz über 
internationale Anwendung eines Rechtssatzes, wenn in der fraglichen Materie unsere Gesetz- 
gebung mit der des Auslandes auf den gleichen Grundlagen beruht, auch bei uns Beachtung. 
§92. Provinzial-(und Lokal-) Recht innerhalb desselben Staates 
einer= und Gesetze auswärtiger Staaten anderseits. Die Frage, ob 
und inwieweit ein auswärtiges Provinzial= oder Lokalrecht desselben Staates anzuwenden 
sei, ist nach denselben Grundsätzen zu beurteilen, welche für die Anwendung der Gesetze aus- 
wärtiger Staaten Platz greifen. Dies folgt schon daraus, daß, wenn z. B. eine bisher dem 
Staate A angehörige Provinz jetzt dem Staate B angeschlossen wird, dadurch an der Geltung 
der Privatrechtsnormen in jener Provinz nicht das mindeste geändert wird; und wenn man 
bedenkt, daß einerseits Provinzen und Gebiete selbst von äußerst verschiedener Kultur unter 
derselben obersten Staatsgewalt vereinigt sein können — in einem Gebiete kann ja der Islam 
anerkannt sein, während in dem anderen das Christentum Staatsreligion ist —, und daß ander- 
seits selbst der Unterschied von provinzieller Abhängigkeit und bloßer Personalunion selbständiger 
Staatsorganismen unter demselben Herrscherhause möglicherweise im konkreten Falle sehr 
kontrovers sein kann, so ist die Frrigkeit der entgegengesetzten, jetzt aber wohl allgemein aufge- 
gebenen Ansicht leicht einzusehen. 
§ 10. Sogenannte zwingende oder Prohibitivgesetze. Es ist un- 
richtig, mit Savigny und anderen eine Klasse von Rechtsnormen auszuscheiden, welche 
absolut die Anwendung gewisser auswärtiger Rechtsnormen ausschließen sollen, und ganz 
besonders unrichtig war es, wenn Savigny dahin gar alle Gesetze rechnen wollte, die auf 
anderen Gründen als der reinen Rechtskonsequenz zu beruhen scheinen, z. B. alle Gesetze, die auf 
nationalökonomischen Gründen beruhen, wonach denn, genau betrachtet, die Anwendung aus- 
wärtiger Rechtsnormen auch z. B. bei Bestimmung der Erbfolge absolut ausgeschlossen sein würde. 
Wenn ferner die französische Wissenschaft und Praxis die inländischen Gesetze des Ordre public 
oder, wie jetzt beschränkend gesagt wird, die inländischen Gesetze des Ordre public international 
unbedingt unter völligem Ausschluß des auswärtigen, von solchen Gesetzen abweichenden Rechtes 
angewendet wissen will, so sind diese Kategorien in höchstem Grade unbestimmt. Vielmehr 
läßt sich von keiner noch so sehr selbst unseren sittlichen Anschauungen widersprechenden aus- 
ländischen Rechtsnorm behaupten, daß sie nicht irgendeine bei uns oder vor unseren Gerichten 
anzuerkennende Nach= oder Nebenwirkung haben könne. So wird die Polygamie nach unseren 
sittlichen und Rechtsanschauungen verworfen; aber eine Erbfolge, die sich auf eine im Aus- 
lande rechtsbeständige Polygamie gründete, wäre auch bei uns anzuerkennen. Anderseits 
kann niemand auf Grund eines auswärtigen Gesetzes bei uns oder vor unseren Gerichten 
jemanden als seinen Sklaven oder Leibeigenen reklamieren oder etwa ein Türke auf Grund 
seines heimatlichen Gesetzes eine aus seinem Harem entflohene Frau, mit der er in Polygamie 
lebte, bei uns verfolgen. Vorkommen kann es auch, daß ein Gesetz die Feststellung eines Ver- 
hältnisses vor den einheimischen Gerichten absolut verbietet, während es die vor einem aus- 
wärtigen Gerichte erfolgte Feststellung in ihren weiteren Konsequenzen vor inländischen Ge- 
richten geltend zu machen gestattet. So wird der Satz des Art. 340 des französischen Zivil- 
gesetzbuchs „La recherche de la paternité est interdite“ von der französischen Jurisprudenz
	        
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