Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Zweiter Band. (2)

276 L. von Bar. 
§ 60. 2. Unterscheidung von Auslieferung und Ausweisung. Die 
Auslieferung an den strafzuständigen Staat ist ohne hierauf gerichteten Vertrag keine wirk- 
liche völkerrechtliche Pflicht. Dagegen ist sie, wenn das interne Staatsrecht nicht entgegensteht, 
auch ohne vorherigen Vertrag zulässig, jedoch als Akt der Rechtshilfe streng zu unterscheiden 
von der polizeilichen Maßregel der Ausweisung. Der Ausgewiesene wird nur an dem 
ferneren Aufenthalt im Lande verhindert, nötigenfalls zwangsweise hinaustransportiert; es 
muß ihm aber freigestellt bleiben, sich, wohin er will, ins Ausland zu begeben. Der Auszu- 
liefernde wird einer bestimmten anderen Staatsgewalt zum Zwecke der Bestrafung zwangs- 
weise übergeben. 
§ 61. 3. Auslieferungsverträge und Auslieferungsgesetze im 
allgemeinen. Auslieferung und Abschluß von Auslieferungsverträgen setzt im allge- 
meinen völkerrechtliche Vertragsfähigkeit voraus. In Bundesstaaten mit einer wirk- 
lichen Zentralgewalt müßte der mit Verweigerung der Auslieferung verbundenen internationalen 
Verantwortlichkeit wegen beides zur Zuständigkeit nur der Zentralgewalt gehören, und so ist 
es auch in der nordamerikanischen Union, in den südamerikanischen Bundesstaaten und in der 
Schweiz. Im Deutschen Reiche besteht aber ein Zwitterzustand. Die Reichsgewalt 
kann — jedoch nur mit Zustimmung des Reichstags — Auslieferungsverträge schließen, und 
ist solcher Vertrag mit einem fremden Staate geschlossen, so ist insoweit die Vertragsbefugnis 
der einzelnen Bundesstaaten erloschen, so daß jetzt, da das Reich zahlreiche Auslieferungs- 
verträge geschlossen hat, diese Vertragsbefugnis der einzelnen deutschen Bundesstaaten nur 
noch wenigen fremden Staaten gegenüber besteht. Bewilligung wie Verweigerung der 
Auslieferung ist noch Sache der einzelnen Bundesstaaten. 
Eine weitere empfehlenswerte positive Grundlage hat das Auslieferungsrecht in Belgien, 
Luxemburg, England, den Niederlanden, in der Schweiz und mehreren amerikanischen Staaten 
durch Auslieferungsgesetze erhalten, in denen bestimmt ist, auf welchen Grundlagen 
Auslieferungen bewilligt und Auslieferungsverträge geschlossen werden können und das Aus- 
lieferungsverfahren geregelt ist. 
§ 62. 4. Gegen wärtig für die Auslieferung geltende Grund- 
sätze. Da Auslieferung nur im Interesse der Gerechtigkeit erfolgen soll, die Gerechtigkeit 
des Strafanspruchs des anderen Staates aber nur nach Maßgabe der im Strafgesetze ausge- 
drückten Rechtsanschauungen des um Auslieferung ersuchten Staates festgestellt werden kann, 
so soll ausgeliefert nur werden, wenn die Tat strafbar ist nicht nur nach dem Gesetze des er- 
suchenden, sondern zugleich nach dem Gesetze des ersuchten Staates (sog. Grundsatz der 
identischen Strafnorm). Die Frage ist jedoch im einzelnen Falle nicht zu prüfen, 
wenn in einem allgemeinen Auslieferungsvertrage die Straftaten, wegen deren Auslieferung 
stattfinden soll, einzeln aufgeführt sind, es sei denn, daß das gegenteilige Verfahren besonders 
angeordnet ist oder das englisch-nordamerikanische Verfahren (siehe unten) stattfindet. Als Folge 
des Erfordernisses der Strafbarkeit auch nach dem Gesetze des ausliefernden Staates gilt auch 
die Beschränkung, daß die Strafbarkeit der Tat nach diesem Gesetze nicht schon verjährt sein 
darf, während bestritten ist, ob das Fehlen eines zur Verfolgung erforderlichen Privatantrags 
ebenso zu behandeln sei. 
Wegen der großen Differenz der politischen Gesetze der einzelnen Staaten und ihrer 
praktischen Handhabung, ebenso auch wegen der Zweifel, ob selbst identisch lautende Straf- 
normen im Sinne der gleichen Gerechtigkeit in verschiedenen Staaten angewendet werden 
möchten, ist gerade im Gegensatz zur früheren Zeit seit dem vierten Jahrzehnt des 19. Jahr- 
hunderts die Auslieferung wegen politischer Verbrechen ausge- 
schlossen, und zwar, wie meist angenommen wird, nicht nur wegen solcher Straftaten, 
die in abstracto lediglich politischer Natur sind (Angriffe auf den Staat und dessen Ver- 
fassung), sondern auch wegen solcher Straftaten, die in abstracto nicht politischer Natur, doch, 
wie man mit einem ungenauen (aber bis jetzt durch einen allgemein angenommenen noch nicht 
ersetzten) Ausdruck sagt, mit politischen Verbrechen konnex sind, als gewöhnliche und nahe- 
liegende Mittel für politische Zwecke dienen. Andererseits ist durch die sogenannte in
	        
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