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tisch als die Stelle, wo die abgegebenen Briefe niedergelegt werden sollen; oder ich lasse die vom
Lebensmittelhändler herrührenden Gegenstände ein für und allemal in den Vorraum oder in
die Küche bringen. Ist dagegen ein solcher Wille nicht geäußert, sei es zum voraus, sei es nachher,
so liegt ein Besitzerwerb nicht vor, z. B. nicht dann, wenn jemand seinen Hut in meinem Haus-
raum ablegt, oder wenn ein Dritter meinen Keller benutzt, um dort seinen Raub für einige Zeit
in Sicherheit zu bringen 1.
Diese Verbindung des sozialen mit dem individuellen Moment ist die Schwierigkeit der
Lehre2. Das individuelle Moment wird natürlich dann eine ganz besondere Bedeutung gewinnen,
wenn es sich um ein Grundstück handelt, welches nicht ebenso wie eine bewegliche Sache in eine
unmittelbare Berührung zu mir und meinem Hauswesen treten kann. Hier muß der Wille,
die Sache für mich zu haben, ganz besonders zum Ausdruck gebracht werden; dies kann aber nicht
bloß durch Sachbehandlung geschehen, sondern auch durch sonstige soziale Tätigkeit: so dadurch,
daß ich der Offentlichkeit gegenüber, z. B. durch einen Grundbucheintrag, erkläre, die Sache
haben zu wollen.
§ 28. Die große Bedeutung des Besitzinstituts besteht in folgendem: niemand ist berechtigt,
den Besitzzustand eigenmächtig zu brechen, auch wenn er das beste Recht hat. Findet er, daß
der Besitzstand nicht mit dem Recht übereinstimmt, dann ist es seine Sache, auf dem Wege staat-
licher Hilfe sein Recht zu verwirklichen. Dies ist die ganze Grundlage des Besitzschutzes, und es
versteht sich daher von selber, daß der Besitz ein Recht ist, aber nicht, wie die gewöhnlichen sub-
jektiven Rechte, ein Recht im Interesse des Berechtigten, sondern ein Recht zur Erhaltung des
allgemeinen Friedens, ein Recht, das jeder gleichsam als Beauftragter des Staates, als Ver-
teidiger der Friedensordnung innehat; und so erklärt es sich, daß auch der Dieb, auch der un-
redliche Besitzer Besitzer ist und den Besitzesschutz genießt, weil Staat und Ordnung nicht bestehen
können, wenn nicht der Besitzer, ohne Rücksicht auf seinen Besitzgrund, also auch der Dieb, geschützt
ist: der Dieb, der sonst ein staatsgefährliches Subjekt ist, tritt insofern als Vertreter der staatlichen
Friedensordnung auf. Daraus ergibt sich auch von selber, daß jemand den Besitz erwerben kann,
der völlig geschäftsunfähig ist, denn auch er ist ein Mitglied der Friedensordnung, und auch ein
Einbruch in seine Sphäre würde die Friedensordnung stören: die Annahme, daß nur ein Ge-
schäftsfähiger Besitz erwerben könne, widerspricht den Grundlagen des Besitzinstituts. Daher
ist es auch begreiflich, daß man Besitz an Teilen einer Sache, an Räumen, auch an einer Wand-
fläche haben kann (z. B. wenn man sie für öffentliche Anschläge mietet), während an solchen Be-
standteilen ein Eigentum nicht möglich ist (§ 865 BGB.): das Recht der Friedensordnung folgt
anderen Grundsätzen als das individuelle Recht menschlicher Interessen .
Das Willenselement beim Besitz tritt nun aber insbesondere noch in folgendem
hervor: nicht selten finden Beziehungen zwischen zwei Personen in der Art statt, daß die eine
Person eine Sache innehat in voller Anerkennung dessen, daß sie einem anderen gehört. Man
könnte nun in solchem Falle dem Inhaber allein Besitz geben und den anderen auf das Recht be-
schränken; damit würde man aber eine große Ungerechtigkeit begehen: man muß auch diesem an-
deren die Befugnis geben, die Sache gegen Besitzstörungen Dritter zu schützen, er kann in dieser
Bezichung nicht auf den guten Willen des Inhabers gestellt sein. Das römisch-byzantinische Recht
hat dies wohl erkannt, aber es ist dabei in das entgegengesetzte Extrem gelangt, indem es dem
Inhaber den Besitzschutz aus der Hand nahm und ihn zum bloßen Detentor machte: so war der
Micter, der Pächter bloßer Detentor und ohne eigentlichen Besitzschutz, wenn man sich dabei
auch genötigt sah, ihm mittelbar manche Schutzrechte zu geben, wie das interdietum quod vi
Ugl. auch Last im Jahrbuch f. Dogm. 63 S. 114.
: Es gilt hier wie oft, daß viele Besitzgeschäfte typischer Art sind und der Einzelwille nur dann
in Betracht kommt, wenn etwas davon Verschiedenes gelten soll. Vgl. Bruns, Besitzerwerb
durch Interessenvertreter (1910), S. 167. Über den animus bei den Römern vgl. von Hollander
in der Festgabe für Fitting (1903).
Die Frage, ob der Besitz ein bloßes Faktum (also ein Nichtrecht) oder ein Recht ist, ist hiernach
von selbst gelöst. Was in dieser Beziehung an unbrauchbarer Scholastik geleistet wurde, ist kaum
zu beschreiben. Wer davon einen Begriff haben will, lese das Verzeichnis der Schriftsteller pro-
und contra bei Scill amnà, Sistema generale del possesso (1894) p. 376—393. Treffend sagt
Holmes, Common Law (1881) p. 214: Just so far as possession is protected, it is as much a