Bürgerliches Recht. 93
hätte; und zwar kommen hierbei nicht nur die Wertgarantien in Betracht, welche in dem Ver-
mögen der verschiedenen Schuldner liegen — das gleiche könnte ja auch ein Pfand bieten —,
sondern auch die persönlichen Sicherheiten, die darin bestehen, daß mehrere Personen eine Ver-
bindlichkeit als ihre Schuld und damit als ihr „Obligo“, als ihre zugleich moralische Pflicht über-
nehmen. Der Gläubiger kann daher auf mehrere statt auf einen Willen vertrauen. Der eine
Schuldner ist vielleicht ein bekannter Schikaneur, der andere ein bekannter Verschlepper (was
man in der Schweiz Träler nennt), der dritte ist ein honetter Mann, der niemandem etwas
schuldig bleibt. Daß dieser Dritte unter den Schuldnern ist, ist für den Gläubiger ein be-
sonderer Vorteil, nicht bloß wegen seines Vermögens, sondern wegen seiner moralischen Eigen-
schaften. Im übrigen beruht der ganze Unterschied zwischen Korreal- und Solidarobligation
auf nachfolgendem Entwicklungsmoment.
Es ist den Völkern ursprünglich noch nicht faßbar, daß zu gleicher Zeit mehrere Personen
auf denselben Gegenstand verpflichtet sein können, und der Gedanke der Gesamtschuld macht
darum verschiedene Stufen durch, bis er sich in seiner Reinheit darstellt: entweder so, daß der
eine verpflichtet ist und der andere nur unter bestimmten Umständen haftet, oder so, daß der
Gläubiger eine Art von Wahlrecht hat und er aus verschiedenen Verpflichteten einen auswählen
kann, aber, wenn er den einen wählt, damit zugleich die Verbindlichkeit der übrigen beseitigt.
Diesem System gehörte die römische Korrealobligation an, deren Hauptcharakteristikum darin
bestand, daß, wenn der Gläubiger den einen Schuldner bis zur Litiskontestation verklagt hatte,
die übrigen frei wurden. Die Römer fanden es zunächst undenkbar, daß neben der prozes-
sualischen Verbindlichkeit des einen die materielle Verbindlichkeit des anderen noch weiter-
bestünde. Erst eine weitere Entwicklung war es, als man sich darüber hinwegsetzte, was
in der sog. Solidarobligation geschehen ist, während man sich bei der Korrealobligation bis in
die späteren Zeiten mit dem alten System behalf. Als mit Justinian diese Besonderheit der
Korrealobligation erlosch, war ein Unterschied zwischen beiden nicht mehr gerechtfertigt, und von
einer doppelten Art der Gesamtverbindlichkeiten hätte im 19. Jahrhundert nicht mehr die Rede
sein sollen, ebensowenig, als in den Zeiten des Bartolus oder in den Zeiten der Praktiker des
16. und 17. Jahrhunderts davon die Rede war, abgesehen von einigen Andeutungen bei Moli-
näus u. a.
Von viel größerer Bedeutung ist ein germanisches Element, das sich während der mittel-
alterlichen Entwicklung siegreich in das Institut eingeschoben hat, daß nämlich die mehreren
Schuldner eine Genossenschaft bilden, von denen zwar jeder dem Gläubiger als Gesamt-
träger der Schuld gegenübersteht, während die mehreren unter sich Genossen sind, welche die
Lasten der Schuld gemeinsam zu tragen haben 1. Dies ist ein außerordentlich fruchtbarer Ge-
danke, der im römischen Recht nur unvollkommen zur Entwicklung kam, aber im gemeinen Recht,
beispielsweise von Molinäus, klar erkannt wurde. In seinem etwas wunderlichen Werke
Extricatio Labyrintbi dividui et individui Pars III ur. 89 sagt er von den Korrealschuldnern:
inter se debent contribuere, ut unus conventus et coactus totum praestare recurgsum habeat
contra consortes etiam sine cessione actionum creditoris, idque indistincte, etiam si ex causa
lucrativa obligati sint; und weiter handelt er darüber in seinen „lectiones Dolanae“ unter
Bezug auf fr. 76 de solut. Wie sehr er hierin seiner Zeit vorangeschritten war, zeigt der Um-
stand, daß noch im 18. Jahrhundert Pothier ihm nicht folgen konnte 2, und noch mehr, daß
man selbst im 19. Jahrhundert in dieser Beziehung fehlgegangen ist. Heutzutage ist der Gedanke
siegreich zum Ausdruck gekommen; es wäre unserem Gerechtigkeitsgefühl sehr zuwider, wenn
etwa der Zufall, ob es dem Gläubiger gefiele, eher den einen als den anderen herauszugreifen,
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: In genialer Weise spricht dies der Sachsensp. III 86 5 1 aus: Svar mer lüde den ein geloven
to samene en weregelt oder en ander gelt, al sin sie it plichtich to lestene, die wile it unvergulden
is, unde nicht ir iewelk al, mer manlik also vele alse ime gebort, unde alse vern als (man) in dar
to gedvingen mach von gerichtes halven die, deme it dar gelovet is, oder die it mit ime gelovede,
of he it vor ine vergulden hevet. Die Stelle steht an Rechtsinstinkt weit über dem römischen Recht.
Bgl. ferner Schilter, praxis juris romani XLVIII 19, Bluntschli, Rechtsgeschichte von
Zürich II S. 237, Huber, Schweizer. Privatr. IV S. 848. Materialen (aber nichts als
Materialien) bei Stobbe, Geschichte des d. Vertragsrechts S. 139 f.
„ Pothier, Traité des oblig. II ch. 3 a 8 5 5, der auch ein Urteil vom 26. August 1706
und Renusson, traité des subrogations ch. Nr. 9 68 und Nr. 7 gegen Dumoulin anführt.