Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Dritter Band. (3)

8 Otto v. Gierke. 
auch vor den sonst das Gewohnheitsrecht ausschließenden Privatrechtsgesetzen zu. Das neue 
HGB. schweigt gleich dem BGB. über die Kraft des Gewohnheitsrechtes. Somit ist das 
Handelsgewohnheitsrecht nicht mehr privilegiert. Im Sinne der allgemeinen Ausschließung 
des Landesprivatrechts durch das Reichsprivatrecht ist anzunehmen, daß partikuläres Gewohn- 
heitsrecht als solches nur anerkannt werden soll, wo das Reichsrecht auf Partikularrecht ver- 
weist oder dem Partikularrecht eine Entscheidung vorbehält. Ob sich nicht dennoch auch parti- 
kuläres Gewohnheitsrecht durchsetzen kann, ist eine andere Frage. Dagegen steht der Bildung 
eines gemeinen deutschen Handelsgewohnheitsrechts ein Hindermis nicht entgegen. Ein solches 
kann auch das gesetzte Recht so gut abändern wie ergänzen. Die Erfordemnisse und die Fest- 
stellung des Handelsgewohnheitsrechts richten sich nach den allgemeinen Regeln über Gewohn- 
heitsrecht. 
Vom Handelsgewohnheitsrecht zu unterschciden, obschon mit ihm oft unter dem Namen 
„Handelsgebräuche“ oder „Handelsusancen“ zusammengefaßt, ist die Handelssitte (,„die 
im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche"“). Die Handels sitte ist tat- 
sächliche Ubung ohne die Überzeugung rechtlicher Gebundenheit, daher keine Rechtsquelle. Sie 
ist aber ein wichtiges Auslegungsmittel für das rechtsgeschäftlich Gewollte und kann im Ge- 
biete des nachgiebigen Rechts die gesetzliche Regel zwar nicht abschaffen, aber tatsächlich außer 
Anwendung setzen. Das alte HGB. verwies bei Handelsgeschäften allgemein auf die Handels- 
sitte (Art. 279), das neue nur unter Kaufleuten (§ 346). Daneben finden sich allgemeine Ver- 
weisungen auf den Handelsgebrauch bei einzelnen Rechtsgeschäften (z. B. § 90, 359, 380, 393). 
Im übrigen gilt die Auslegungsregel des § 157 BGB., wonach die Verkehrssitte zu beachten 
ist. Die Verkehrssitte kann auch im Verkehr zwischen Kaufleuten und Nichtkaufleuten auf Be- 
achtung der Handelssitte hinauslaufen. Zur Feststellung der Handelssitte sind Bekundungen 
von kaufmännischen Korporationen oder Handelskammern oder von sachkundigen Einzelnen 
(sog. Pareres) besonders geeignete Mittel. 
Sammlungen: Pbegoletti, La pratica della mercatura (vor 1343). — Deeisiones 
Rotae Gennensis. — Gutachten der Altesten der Kaufmannschaft von Berlin über Gebräuche im 
ndelsverkehr, herausg. v. Doveu. Apt, 1897 und Fortsetzungen; Breslauer Handelsgebräuche, 
a 
Hadeee der Breslauer Handelskammer, herausg. v. Riesenfeld, 1900 und Fortsetzung; 
Zander--Fuhrmann, Danziger Handelsgebräuche, 1901. 
8 6. Literatur. Die älteste wissenschaftliche Erörterung handelsrechtlicher Fragen be- 
gegnet in den Werken der mittelalterlichen Legisten und Kanonisten (z. B. bei Bartolus, 
Baldus, Durantis). Vorläufer einer gesonderten Darstellung des Handelsrechts waren 
die Aufzeichnungen der Handelsgebräuche und die Schriften der juristisch-theologischen Sum- 
misten über die Erlaubtheit der Handelsgeschäfte vor dem forum conscientiae (so z. B. der 
compendiosus tractatus de contractibus mercatorum des 1438 verstorbenen deutschen Domi- 
nikaners Joh. Nider). Im 16. Jahrhundert löste sich die Handelsrechtswissenschaft als besonderer 
Zweig der Rechtswissenschaft von der zivilistischen Jurisprudenz ab, behielt aber ihr europäisches 
Gepräge. Das älteste Kompendium des Handelsrechts veröffentlichte i. J. 1553 Benvenuto 
Straccha aus Ankona: Tractatus de mercatura s. mercatore. Ihm folgten andere 
Italiener, wie Sigism. Scaccia, Tractatus de commercüs et cambio, 1618, Jos. de 
Casaregis, Disculmus legales de commercio, 1719/29, und Franzosen, wie J. Savary, 
Le parfait négotiant, 1675. Auf demselben Boden steht der i. J. 1662 erschienene umfang- 
reiche Tractatus politico-juridicus de jure mercatorum et commerciorum singulari des lübi- 
schen Ratsherrn Joh. Marquard. 
Die selbständige wissenschaftliche Behandlung des deutschen Handelsrechts regte Joh. 
Georg Büsch (1728—1800) mit seinen das Handelsrecht in die Handelslehre hineinziehenden 
Arbeiten an. Sein Schüler F. v. Martens (1756—1821) schrieb das erste deutsche Werk 
über Handelsrecht, in juristischer, aber vom Naturrecht beeinflußter Behandlungsweise (Grund- 
riß des Handelsrechts, 1. Aufl. 1797, 3. Aufl. 1820). Eine mehr positivrechtliche Richtung 
wurde durch die Praxis der Hansestädte und deren ausgezeichnete Vertreter angebahnt. Ins- 
besondere durch Heise (1778—1851), dessen 1814 bis 1817 gehaltene Vorlesungen 1858 ver- 
öffentlicht fsind. Zu erwähnen sind femer Bender (1797—1859, Grundsätze des deutschen 
Handelsrechts, 1824), Meno Pöhls (Darstellung des gemeinen und des Hamburgischen
	        
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