Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Dritter Band. (3)

256 J. Kohler. 
commercec, welche die faillite behandeln. Von der neuen Literatur, die großenteils Kommentar- 
literatur ist, erwähne ich: den trefflichen Kommentar von Jäger, „Konkursordnung aufs Grund- 
lage des neuen Reichsrechts“, der leider in der Konstruktion nicht die richtigen Wege wählt, sodann 
das lehrreiche Werk von Thaller, Faillite en droit comparé (1887), L. Scuffert, Deutsches 
Konkursprozeßrecht (1899), ein Werk, das von richtigen Grundgedanken ausgeht, ohne sie aber 
mit analytischer Schärfe durchzuführen, und, ebenfalls auf richtiger Grundlage beruhend, aber 
im einzelnen abirrend, Oellmann. Von mir erschienen: „Lehrbuch des Konkursrechts (1891), 
worin ich die richtige Beschlagsrechtstheorie nicht nur entwickelte, sondern auch im ganzen und 
cinzelnen, in historischer und rechstvergleichender Grundlegung durchzuführen suchte; „Leitfaden 
des deutschen Konkursrechts (1893)“ und nunmehr (1903) die zweite, bedeutend vermehrte Auflage 
dieses Leitfadens, worin ein Teil des Lehrbuchs mitverarbeitet ist. 
Eine Wissenschaft des Prozesses hat sich nur in Deutschland, Osterreich und Ungarn ent- 
wickelt; Frankreich und England stehen noch auf dem Boden der empirischen Kommentarliteratur. 
Nur in Italien zeigt sich seit neuerer Zeit ein frischer Zug, und man sucht hier im Anschluß an 
Teutschland eine jahrhundertelange Versäumnis wieder gutzumachen und die ungeheuren Schäße 
des Prozeßrechts, die sich in der italienischen Städteentwicklung finden, zu heben. So Ferrara, 
Chiovenda, Menestrina und andere. 
Einleitung. 
1. Grundbegriffe. 
*s 1. Die Verwirklichung der Rechtsansprüche kann durch Selbsthilfe, d. h. durch privaten 
Eingriff in die Sphäre des Anspruchsgegners, erfolgen, und dies war die erste Art, wie man sich 
das Recht verschaffte. Daß diese Form der Rechtserlangung einer fortgeschrittenen Kultur nicht 
paßte, ist oben dargelegt worden, und ebenso, in welcher Weise der Prozeß als ein Zusammen- 
wirken der Privaten mit dem Staate zuerst wahlweise entstanden ist und später die einzige Form 
war, in der man den Widerstand überwinden konnte. Beizufügen ist, daß schon in Hammurapis 
Gesetzen von 2250 v. Chr. (§ 113) die Selbsthilfe verboten wurde, und zwar bezeichnenderweise 
ebenso wie nach dem Deeretum des Marc Aurel (decretum divi Marci) dadurch, daß der Gläubiger 
seine Forderung verlor. Damit vollzog sich eine wichtige Entwicklung: neben die Rechtsordnung 
trat die Friedensordnung, und das Erfordemis des Lebens war nun nicht nur: Lebe nach der 
Rechtsordnung, sondern: Lebe nach ihr unter Beobachtung der Friedensordnung, d. h. des 
ruhigen Besitzstandes. Keine Selbsthilfe ist natürlich die Verteidigung des Friedensstandes: 
Notwehr und Sachwehr sind vielmehr die nächsten Ausläufer des Friedensgesetzes 2. 
Nur in den Fällen, wo ohne privates Eingreifen das Recht wirkungslos würde und öffent- 
liche Hilfe nicht vorhanden ist, muß ausnahmsweise die Friedensordnung der Rechtsordnung 
weichen: Nothilfe (§§ 229 f. BGB.). Die Friedensordnung aber bestimmt, daß, wer seine Rechts- 
ansprüche durchführen will, sich nur des Prozesses bedienen, also den widerstrebenden 
oder lässigen Willen seines Gegners nur mit Hilfe des Gerichts besiegen darf. 
Das ist ein Grundgesetz aller Kulturnationen der heutigen Welt. Der Prozeß erweist 
sich auf diese Art als große Wohltat; andererseits ist die Rechtsordnung verpflichtet, ihn so ein- 
zurichten, daß eine möglichst baldige und ausgiebige Verwirklichung des Rechts zu erzielen ist. 
Mit der Verwirklichung des Rechts sind noch andere Bestrebungen hervorgetreten, und 
auch diese mußten ihre Befriedigung finden; insbesondere verlangte das germanische Recht 
und unser neueres modernes Leben ein Hilfsmittel, um den Streit über Recht und Unrecht zu 
beschwichtigen, und um schließlich den Zwiespalt der Ansichten über die Berechtigung durch einen 
festen Ausspruch des Rechts zu begleichen. Dadurch ist die Aufgabe des Prozesses bedeutend 
erweitert worden. Er soll nicht etwa bloß Rechte verwirklichen, er soll auch nicht bloß das Recht 
insoweit prüfen, als es nötig ist, um in der Verwirklichung das Richtige zu treffen, sondern er 
soll das Recht in maßgebender Weise feststellen. 
1 Encyclopädie I S. 57. 
: Lehrbuch des bürgerl. Rechts 1 S. 207 ., Kohler in Dernburg VI S. 551. Daher 
stehen die 35 227 und 859 BG#B. innerhalb der Friedensordnung.
	        
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