Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Dritter Band. (3)

Zivilprozeß- unb Konkursrecht. 257 
Entsprechend hat der Zivilprozeß zwei ganz verschiedene Tätigkeiten zu entfalten: die 
Rechtsfeststellung und die Vollstreckung. Bei der Rechtsfeststellung kommt wiederum zweierlei 
in Betracht: das vorbereitende Verfahren und die Feststellungstätigkeit; letztere geschieht durch 
Urteilssprechung: diese ist etwas von der sonstigen Gerichtstätigkeit innerlich und wesentlich 
Verschiedenes, und der Prozeß ist darum ein Prozeß bis zum Urteil und ein Prozeß im und 
durch das Urteil. 
§ 2. Der Prozeß hat also die Aufgabe, das Recht zu verwirklichen und festzustellen. Er 
verfolgt damit einen doppelten Zweck: 
1. Recht muß Recht sein; die Verwirklichung des Rechts ist eine der wichtigsten Kultur- 
aufgaben; wo es daran fehlt, ist jede gedeihliche Entwicklung ausgeschlossen. 
2. Der Streit soll der Beruhigung Raum geben, denn es ist eine Voraussetzung der Kultur- 
ordnung, daß alle Dinge zur Ruhe kommen, damit von da aus sicher weitergebaut werden kann. 
Es darf nicht sein, daß stets eine neue Erschütterung zu befürchten ist. 
Aus 1. ergibt sich: die Gerichte sollen mit aller Kraft dahin streben, das wahre Recht zu 
verwirklichen und festzustellen; und der Staat soll die erforderlichen Mittel gewähren, um ein 
solches zu ermöglichen, insbesondere die Gerichte in der nötigen Weise besetzen und organisieren. 
Aus 2. ergibt sich: Ist es den Gerichten auch nicht gelungen, das Richtige zu finden, dann 
muß nichtsdestoweniger ihre Entscheidung gelten, denn eine stete Erneuerung des Streites 
würde gerade den unschätzbaren Vorteil aufheben, daß eine Beruhigung und Sicherheit der 
Verhältnisse eintritt. 
Daher der Satz: die Gültigkeit der Entscheidung ist nicht von ihrer Richtigkeit und Güte 
abhängig. 
§ 3. Der Prozeß ist das Mittel, um die Rechtsansprüche ohne Selbsthilfe zur Verwirk- 
lichung zu bringen; er ist nicht das einzige Mittel der Verwirklichung des Rechts, denn diese 
kann auch auf mittelbarem Wege erfolgen; insbesondere kann man sich möglicherweise des 
seelischen Zwanges bedienen: es kann lbusg sein, daß der Nichtzahlende auf eine schwarze 
Tafel geschrieben oder aus einer Gemeinschaft ausgestoßen wird. Das war alten Rechtes und 
kommt auch heutzutage vor, sofern sich Vereinigungen gebildet haben zum Schutze gewisser 
Interessen gegen die Einwirkung widerspenstiger Elemente. Allerdings sind derartige Mittel 
zweischneidig; sie können auch zur Bedrückung mißbraucht werden und schweren Schaden an- 
richten. 
Ein anderes Mittel der sozialen Rechtsverwirklichung operiert mit dem Prozeß, aber es 
operiert in der Art, daß der Prozeß nicht dem einzelnen aufgebürdet bleibt, sondern daß die 
Interessenten, als Kreditorenverbände, Hausbesitzerverbände, Verbände der Autoren, es über- 
nehmen, in Fällen der Rechtsverletzung den Prozeß zu führen und dem einzelnen die Mühen 
und Kosten des Prozesses abzunehmen. Derartige Verbände haben sehr segensreich gewirkt 
und insbesondere in heilsamer Weise den sonst blühenden Rechtsverletzungen gesteuert; viele 
Rechtsverletzungen erfolgen in der Erwartung, daß der Verletzte die Kosten und Unannehmlich- 
keiten eines Rechtsstreites scheut: darum haben solche Verbände noch eine große Zukunft 1. 
§ 4. Zivilprozeß ist ein (zwischen zwei Personen) obschweben- 
des Rechtsverhältnis, welches den Zweck verfolgt, auf dem Wege 
des Verfahrens (Rechtsganges) unter richterlicher Beihilfe vor- 
handene Privatrechtsansprüche zu verwirklichen oder vorhandene 
Rechte oder Rechtsverhältnisse privater Art festzustellen. 
Was (in Parenthese) über die zwei Personen gesagt ist, gilt allerdings nicht für jeden 
Prozeß, es gilt aber für die regelmäßige Form, für den Parteiprozeß; es gilt nicht für den Prozeß 
im Untersuchungsverfahren. 
Zivilprozeß ist also nicht identisch mit Verfahren (Rechtsgang), aber der Zivilprozeß bedarf 
des Verfahrens. 
1 Vgl. hierzu die bemerkenswerte Darstellung von Nothnagel, Exekution durch soziale 
Interessengruppen (Wien 1899). 
Encyklopädie der Rechtswissenschaft. 7. der Neubearb. 2. Aufl. Band III. 17
	        
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