258 J. Kohler.
Verfahren (oder Rechtsgang) ist eine geregelte Tätigkeit, die einem bestimmten
Abschluß zusteuert. Regelmäßig fällt nun der Zivilprozeß mit einem Verfahren in der Art zu-
sammen, daß der Abschluß des Prozesses zugleich auch der Abschluß dieses Verfahrens ist; doch
nicht immer: möglicherweise kann das Verfahren mit einem Urteil abschließen, das ein Nach-
verfahren zuläßt; hier gehört das Nachverfahren zum gleichen Prozeß, aber es ist ein zweites
Verfahren, das möglicherweise nach anderen Grundsätzen stattfindet.
Dasselbe gilt von einem Prozeß mit mehreren Instanzen: auch hier bleibt das Rechts-
verhältnis das nämliche, es wird aber in mehrere Verfahren zerlegt, wovon jedes Verfahren
sich selbständig entwickelt; auch hier sind die mehreren Verfahren verbunden durch die auflösende
Bedingung: welche jedem noch nicht rechtskräftigen Urteil anklebt.
Das Verfahren des Zivilprozesses ist meist ein sogenanntes Parteiverfahren,
d. h. ein Verfahren, um im Kampfe zweier Personen, zweier sogenannter Streitteile, den Stoff
für die Entscheidung des Prozesses zu gewinnen; es ist ein Parteiverfahren unter Mitwirkung
des Staates, um durch den öffentlichen Willen die Verwirklichung oder Feststellung des Rechts
zu erzielen, um zu entscheiden und zu zwingen. Natürlich ist dieser Kampf nicht ein leiblicher,
sondern ein geistiger Kampf; man gelangt dadurch am besten zur Erkenntnis, weil sich im Einzel-
kampfe am leichtesten alle oft einander widerstrebenden Erkenntnismomente entwickeln lassen.
Dies gilt vom gewöhnlichen Zivilprozeß, vom Parteiprozeß. Ausnahmsweise gibt es
Prozeßformen ohne Parteien: man spricht hier vom Untersuchungsverfahren;
so im Entmündungsprozeß.
§ 5. Daß sich der Zivilprozeß in einem rechtlich geregelten Verfahren entweickelt,
hat er
mit dem schiedsrichterlichen „Verfahren“,
mit der freiwilligen Gerichtsbarkeit,
mit dem Verwaltungsstreitverfahren,
mit dem Strafprozeß
u
gemein.
Vom ersteren unterscheidet er sich dadurch, daß er nicht ein Privatverfahren, sondern ein
Verfahren unter Zuziehung staatlicher Organe ist, während die schiedsrichterliche Tätigkeit sich
innerhalb eines rein privatrechtlichen Verhältnisses abspielt 1.
Von den übrigen drei Verfahrensweisen unterscheidet sich der Zivilprozeß durch seinen
Zweck; denn bei der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Rechtspolizei) sollen neue Rechtsbeziehungen
geschaffen, nicht alte verwirklicht oder festgestellt werden (neue Rechtsbeziehungen des bürger-
lichen Rechts, doch gibt es auch eine freiwillige Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts); beim
Verwaltungsstreitverfahren aber handelt es sich um die Verwirklichung von Rechtsansprüchen
oder um Feststellung von Beziehungen des öffentlichen Rechts, und beim Strafprozeß
waltet der Zweck, einer strafbaren Handlung die gebührende Strafe zuzuteilen. Welche Ver-
hältnisse dem bürgerlichen und welche dem öffentlichen Recht angehören, ist in der Darstellung
dieser Rechtsgebiete auszuführen (meist in der Darstellung des öffentlichen Rechts). Hervor-
zuheben ist, daß ein Anspruch öffentlich-rechtlich ist, auch wenn man sich dabei über eine
bürgerlich-rechtliche Präjudizialfrage schlüssig machen muß, und umgekehrt. Die Prä-
nudizialfragen verschieben den Standpunkt des Rechts nicht.
§ 6. Der Unterschied des Prozesses von der freiwilligen Gerichtsbarkeit ergibt sich aus
dem Obigen mit Klarheit dahin, daß bei der freiwilligen Gerichtsbarkeit neue Rechtsbeziehungen
geschaffen werden sollen, während der Prozeß zur Erledigung und Feststellung vorhandener
Rechtsverhältnisse bestimmt ist. Im übrigen hat auch die Behörde der freiwilligen Gerichts-
barkeit natürlich nicht blindlings zu handeln, sondern vorher zu prüfen, ob die Voraussetzungen
derjenigen Rechtsbetätigung vorliegen, welche die Behörde ausüben soll. Die Prüfung findet
aber dann nicht statt zu dem Zweck, um ein Rechtsverhältnis zu entscheiden, sondern, um
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1 Sie unterliegt daher ihren besonderen Grundsätzen, nicht den Grundsätzen des Prozesses;
z. B. wird das Schiedsgerichtsverfahren nicht durch Konkurs unterbrochen, wenn es auch hier
zweckmäßig ist, die veränderte Lage zu berücksichtigen. Vgl. RG. 7. 11. 1905 Entsch. 62 S. 24.