262 J. Kohler.
daß der Richter von den Prozeßformen und namentlich von der festen Terminordnung ent-
bunden sei. Dabei schlich sich allerdings mancher Mißbrauch ein, wie wir dies auch aus
Dante erfahren 1. Allein, es lag darin ein fruchtbarer Keim, der um so mehr Anklang finden
mußte, als italienische Städte schon seit geraumer Zeit ähnliche Erleichterungen gegeben hatten.
Die Clementina Saepe will nun nicht ein neues Verfahren einführen, aber sie bestimmt, wie
das Verfahren simpliciter und de plano zu entwickeln sei, und gibt in dieser Beziehung nament-
lich folgende Norm: es solle keine bestimmte Terminordnung bestehen, sondem der Richter soll es
in der Hand haben, die Termine beliebig zu bestimmen, namentlich auch den Parteien auf-
zugeben, in einem Termin alles noch nicht Vorgebrachte zusammenzubringen. Außerdem
erklärte sie noch mehrere andere Neuerungen als berechtigt, so namentlich auch die, daß selbst
bei Abwesenheit des Beklagten die Sache untersucht und entschieden werden könne.
Dieses großartige Hauptgesetz des Prozesses ist die Grundlage, auf der sich das franzö-
sische Verfahren entwickelte; es wäre auch in Deutschland bahnbrechend geworden, hätte man
nicht für das Reichskammergericht wiederum das altkanonische Verfahren als Norm an-
genommen. So kam es, daß dem gemeinrechtlichen Verfahren in Deutschland die Feinheit
und Geschmeidigkeit der Clementina fremd blicb, und das war der Punkt, in dem uns das franzö-
sische Verfahren überlegen war. Dazu kam noch verschiedenes andere. Das römische und das
kanonische Recht — und dementsprechend auch das französische und die romanischen Prozeß-
rechte — machten einen wichtigen Abschnitt mit der sogenannten litis contestatio. Im römischen
und romanischen Recht hatte das Verfahren vor dieser litis contestatio die Bedeutung, daß
eine Reihe prinzipieller Anstände erörtert und erledigt wurde, bevor man in den Prozeß ein-
trat 2, und das gleiche galt auch im kanonischen Rechte, wo die litis contestatio den eigentlichen
Streit eröffnete. In Deutschland hat eine spätere Entwicklung diese Spaltung aufgegeben:
zu Unrecht; sie tauchte heutzutage wieder auf in der ersten Tagsatzung, im Vortermin, wie ihn
insbesondere die österreichische Prozeshordnung aufgestellt, und wie man ihn auch bei uns mit
Recht verlangt hat. Es ist für die ganze Prozeßführung vorteilhaft, wenn ein erster Orientierungs-
termin vorhanden ist, in welchem zugleich prinzipielle Fragen, wie die der Prozeßfähigkeit der
Parteien, und andere Voraussetzungen des Prozesses erörtert, in welchem entsprechenden-
falls ein Vergleich abgeschlossen, entsprechendenfalls ein Anerkenntnis erzielt, entsprechenden-
falls der Prozeß durch Ausbleiben des Beklagten versäumnisweise erledigt wird. Das
hat den großen Vorteil, daß eine Reihe von Fragen klargestellt wird, bevor man in den
Prozeß eintritt, und noch mehr, daß eine Reihe von Prozessen zum vornweg sich erledigt
und man nicht nötig hat, die normalen Fristen und Wege des Prozesses zu beobachten.
Leider hat man in Deutschland auch in der Zivilprozeßnovelle das altbewährte Muster nicht
befolgt.
Im übrigen übte auf die Entwicklung nicht des Reichskammergerichts-, aber doch des
deutschen Territorialprozesses das sächsische Verfahren einen seit dem 16. Jahrhundert sich
ständig steigerndem unheilvollen Einfluß. Es beruhte auf einem nicht organischen, sondern
mechanischen Festhalten germanischer Prozeßgrundsätze, und die Folge war, daß Mißbildungen
eintraten, die in das modeme Recht nicht hineinpaßten und die Zwecke des Prozesses wesent-
lich schädigten. Zu diesen gehört vor allem das sogenannte Beweisurteil oder Beweisinter-
lokut und die dadurch bewirkte Scheidung zwischen dem tatsächlichen und Beweisverfahren.
Das Beweisverfahren im germanischen Prozeß beruhte auf dem System des Gottes-
beweises (1 S. 58), des Beweises mit Gottesprobe und mit Eid (allein oder mit Eideshelfern).
Dies brachte es mit sich, daß das Urteil vor dem Beweisverfahren gefällt wurde: es war ein
Urteil auf Beweis, dem ein weiteres Urteil nicht zu folgen brauchte, da das Ergebnis des Gottes-
beweises keinem Zweifel unterlicgen konnte und daher die Folgen aus dem Beweisurteil sich
1 Vgl. meine Abhandlung: „Der summarische Strafprozeß zu Dantes Zeit“ im Archiv für
Strafrecht 48, S. 109 f. Vgl. auch über das summarische Verfahren Novara (1277) c. 62,
Rom (1363) 137f., Teramo (1440) p. 25, Turin 1360 (Mon. hist. patr. 1p. 712). Florenzz,
Stat. Potest 1284 c. 21 (Ed. Rondini) non obstet, si in hüs inquirendis vel cognoscendis juris ordo
Vel solempnitas aliqua fuerit pretermissa vel non observata
* Brachylogus IV 10 und 13, an den sich die romanische Bildung, namentlich in Frankreich,
angeschlossen hat.