Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Dritter Band. (3)

Zivilprozeß- und Konkursrecht. 263 
von selbst verstanden. Das Beweisurteil war ein bedingtes Urteil unter der Bedingung der 
Erbringung des Beweiscs; die sogenannte „Läuterung“ kraft Erfüllung oder Nichterfüllung 
der Bedingung ergab sich von selbst: es bedurfte keiner richterlichen Feststellung, ob die Eide 
geleistet oder nicht geleistet waren. Als aber nachträglich der Beweis ein rationeller wurde und 
mehr oder minder in die individuelle Würdigung des Richters gelegt war, mußte in einem 
zweiten Urteil über das Ergebnis des Beweisverfahrens und damit über die Läuterung des 
Beweisurteils entschieden werden. So bekam man unnatürlich zwei Urteile: das Beweis- 
urteil und das läuternde Endurteil, und dies war die Kennzeichnung des deutschen Verfahrens 
bis zur Reform, d. h. bis zur Aufnahme des kanonisch-französischen Prozesses 1. 
Dieses ganze Verfahren taugte für ein modernes Beweissystem nicht. Hoöchstens ließe 
sich eine richterliche Verfügung dahin rechtfertigen, daß der Richter unvorgreiflich seine Ansicht 
ausspricht, wonach der Beweis der einen Tatsache vom Kläger, der Beweis der anderen vom 
Beklagten erwartet werde. Aber auch das wäre eine höchst unrichtige Einrichtung und schon 
darum höchst umständlich und hinderlich, weil der Richter hierdurch genötigt wird, die Beweis- 
lastfrage in erster Linie zu erörtern, während doch die ganze Beweislastfrage zu beseitigen ist. 
Den Prozeß mit unnötigen Fragen zu belästigen, ist der größte Fehler, den man begehen kann, 
denn überall in der Praxis soll man nur so viel Schwierigkeiten aufwerfen, als erforderlich ist, 
um die praktische Aufgabe zu bewältigen. Eine solche Verfügung nun aber noch gar als Urteil 
zu fassen, berfungsfähig zu machen und rechtskräftig zu gestalten, war eine der sinnlosesten 
Einrichtungen, welche die Geschichte des Rechts aufzuweisen hat. Diese unnatürliche Spaltung 
des Prozesses, welche dahin führte, daß man monatelang über die Beweislast stritt, gegen das 
Beweisurteil Berufung einlegte und dann erst die Beweise brachte, die vielfach diesen ganzen 
Streit als überflüssig erscheinen ließen, — diese Spaltung aufgehoben zu haben, gehört zu den 
Glanzpunkten der Z PO., und diejenigen, die heutzutage nichts Gutes an dieser Schöpfung 
der siebziger Jahre lassen wollen, mögen wohl bedenken, daß schon diese eine Neuerung ein 
Verdienst ersten Ranges war 2. 
Eine andere Eigenheit des gemeinen Prozesses war die feste Terminordnung des Reichs- 
prozesses. Diese wurde zwar im sogenannten jüngsten Reichsabschied von 1654 nebst anderem 
aufgegeben, aber dafür kam ein anderer Formalismus. In dem Bestreben, den Prozeß zu 
beschleunigen, bestimmte man, daß, was zu einer bestimmten Stufe des Prozesses gehöre, ver- 
einigt werden müsse, ansonst es nicht nachgeholt werden dürfe. So hatte die Partei vielen 
unnötigen Stoff zu bringen, den man nur deshalb herbeischaffte, weil, wenn man ihn später 
etwa brauchte, man ihn nicht mehr nachschieben konnte. Dieses nannte man Eventualmaxime: 
man zählte sie unter die Grundprinzipien des Prozesses. Sie führte zu einem entsetzlichen Formalis- 
mus und zu einer gründlichen Verschrobenheit, so daß schließlich eine Partei genötigt war, ein- 
ander ganz widersprechende Dinge zu behaupten, das eine in erster Linie, das andere eventuell 
für den Fall, daß das erstere nicht gelte; das Prozeßvorbringen wurde zur reinsten Unnatur, 
und, was noch mehr ist: unter der Notwendigkeit, solche widersprechenden Behauptungen auf- 
zustellen, litt die Offenheit und Ehrlichkeit des Prozesses. So war der deutsche gemeine Prozeß 
bis ins 19. Jahrhundert gestaltet; sein Zeichen war Verballhomung und Mißgestalt. 
§ 10. Die Aufnahme des kanonisch-französischen Verfahrens erfolgte in Deutschland 
im 19. Jahrhundert. Nachdem man seit der preußischen Gerichtsordnung verschiedene Ver- 
suche gemacht hatte, in mehr oder minder ungeschichtlicher Weise den Prozeß zu gestalten, die 
ergebnislos blieben, weil es der ganzen friderizianischen Periode an gesetzgeberische Gestaltungs- 
fähigkeit fehlte, griff man in der hannöverschen Prozeßordnung von 1850 auf den kanonisch- 
französischen Prozeß. Alle Verderbnisse des Prozesses durch das Beweisinterlokut, durch die 
1 In Dortmund wurde noch im 13. Jahrh. in der Art auf Beweis erkannt, daß die einzelnen 
zu vernehmenden Zeugen benannt wurden. Diese wurden nicht in moderner Weise vernommen, 
sondern hatten einfach das Beweisthema zu beschwören. Im Fall des Zwiespalts entschied die 
Mehrzahl, oder es kam zum Zweikampf unter ihnen: Bädecker, Richter und Gericht in Dort- 
mund (1909) S. 270, in den Beiträgen zur Geschichte Dortmunds XVII. 
: Schon frühere Prozeßgesetze hatten die Sache dadurch erleichtert, daß sie statt eines Beweis- 
entscheids einen unanfechtbaren Beweisbeschluß faßten. Schon das Kammergericht Brandenburg 
erkannte im 16. Jahrhundert auf Beweis durch einen Beschluß (Abschied).
	        
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