Zivilprozeß- und Konkursrecht. 277
Staates, die darum auch möglicherweise über königliche Angelegenheiten richten können. Dies
ist der Grundsatz der Unabhängigkeit der Rechtspflege, den man deswegen für nötig fand, weil
die Rechtspflege nicht beeinflußt werden darf durch die oft wechselnden Bestrebungen der Ver-
waltung und Politik, und weil das Recht auch der Politik gegenüber standhalten muß; denn
Recht muß Recht bleiben.
Es ist darum ein unrichtiger Brauch, wenn bei uns die Urteile im Namen des Königs
lauten. Sie sollten lauten: Im Namen des Staates 1. - .
8 20. Organisation im einzelnen. Im übrigen beruht die Organisation
der Gerichte teils auf dem Einzelrichtersystem, teils auf dem System der Richtermehrheit oder
Kollegialität. Das erste System war im römischen Rechte das regelmäßige: meist entschied
nur der eine Mann, wenn auch nach Anhörung eines Rates, der ihm seine Ansicht vorzutragen
hatte. Er konnte also einen Teil der Intelligenz vom Rat annehmen; er allein aber hatte den
Willen, ihm kam die Entscheidung und die Verantwortung zu. Doch gab es auch schon im Alter-
tum Ausnahmen.
Im übrigen hat sich das Mehrheitssystem hauptsächlich in Italien entwickelt, indem man
die Schöffenverfassung dahin umgestaltete, daß der Vorsitzende wie ein Schöffe mitstimmte,
und auf diese Weise gestaltete es sich auch im königlichen oder städtischen Rat und gestaltete es
sich in den höheren Gerichten Deutschlands.
So ist das Mehrheitssystem auch das System Frankreichs geworden, während das nicht
durch Italien beeinflußte England nur bei Gerichten höherer Instanz eine Mehrheit wirken
läßt, während in der ersten Instanz, auch in größeren Sachen, nur ein Richter urteilt, dem
allerdings die Sachen vielfach von den sogenannten masters vorbereitet werden.
Wir haben in allen bedeutenderen Sachen das Mehrheitssystem. Es besteht darin, daß
mehrere Richter entscheiden, und zwar nach Mehrheitsabstimmung, während einer von ihnen,
der Vorsitzende, zugleich die Rechtssache zu leiten und insbesondere den Prozeß von einem
Stadium zum anderen weiterzuschieben hat. Dabei gilt solgendes: Jedes Mehrheitsgericht
bildet eine Behörde, welche aus verschicdenen Abteilungen zu bestehen pflegt. Die Behörde
ist zwar keine juristische Person, sie ist ein Organ des Staates, aber ein Organ mit einer ge-
wissen Selbständigkeit und einem ihm zugewidmeten Vermögen. Diese Behörde besteht regel-
recht aus mehreren Abteilungen, unter die die Geschäfte verteilt sind, und zwar in der Art, daß
eine Anzahl Mitglieder aus der Abteilung jeweils das fungierende Gericht bilden. Man unter-
scheidet also: Behörde, Abteilung, fungicrendes Gericht. Natürlich besteht dabei die Behörde,
auch die Abteilung, aus mehr Mitgliedern als das fungierende Gericht; die Abteilung deshalb,
weil für den Fall der Verhinderung eines Mitglieds doch das fungierende Gericht vollzählig sein
muß;z und eine Mcehrheit von Abteilungen ist gegeben, da eine Abteilung der Geschäfte nicht
Herr würde; auf solche Weise zerfällt das Mehrheitsgericht in sogenannte Kammern (bei
Oberlandesgerichten und Reichsgericht Senate genannt).
Das Verhältnis der Abteilungen tritt regelrecht nach außen nicht hervor; in welcher der
Kammem die Sache verhandelt wird, geht die Parteien nichts an (mit einer alsbald, S. 278,
zu erwähnenden Ausnahme); die Kammern entscheiden nicht als Kammern, sie entscheiden
als Organe des Gerichts, oder vielmehr durch sie entscheidet das Gericht als Gerichtsbehörde,
und dieses entscheidet nicht minder, wenn auch eine andere Kammer entschieden hat, als regel-
recht hätte entscheiden sollen (vgl. RGStrafs. Bd. 23 S. 235, Bd. 28 S. 215).
Aber nicht nur die Kammern oder Senate sind für die Gerichtsbehörde tätig, sondern
auch der Vorsitzende und der beauftragte Richter; letzterer ist ein Gerichtsmitglied, das vom
Mehrheitsgericht aufgestellt wird, um eine einzelne Prozeßhandlung vorzunehmen, z. B. eine
Zeugenvernehmung, einen Augenschein oder das Verhör der Parteien im Rechnungsverfahren,
wobei Posten und Gegenposten zu prüfen sind. Die Tätigkeit eines beauftragten Richters
ist gleich der Tätigkeit des Gerichts, aber nur innerhalb seiner Schranken. bberschritte er diese
1 Die Selbständigkeit der Gerichte schließt natürlich ein formelles Aufsichtsrecht über den
ordnungsmäßigen Geschäftsgang nicht aus; die richtige Grenze zu finden ist Sache verständnis-
vollen (von aller Bureaukratie entfernten) Taktes; vgl. Dörr, Rhein. Z. III S. 425.