Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Dritter Band. (3)

Zivilprozeß- und Konkursrecht. 297 
sich das Institut der Sprechanwälte. Diese Sprechanwälte traten (wie die advocati) in Gegen- 
satz zu den procuratores, den Vertretern der abwesenden Parteien, und so bildete sich ein 
Stand der procuratores und ein Stand der advocati. Wir finden die Trennung im kano- 
nischen Rechte ausgeprägt; in Durantis steht ein Kapitel über die Prokuratoren und eines 
über die advocati (1 1 5 3 und 11 54), und ebenso bei Beaumanoirc. 4 und5, und noch 
in den deutschen Kammergerichtsordnungen werden beide genannt (z. B. von 1555 1 18 und 19); 
ebenso werden beide bei dem Rottweiler Hofgericht unterschieden !; doch der Unterschied 
verblaßte hier und verschwand in Deutschland. 
In romanischen Ländem aber hat sich dieses Doppelsystem erhalten, indem die 
Nachfolger der Prokuratoren, die sogenannten avoués (früher procureurs), die eigentlichen 
Prozeßfunktionen statt der Parteien zu besorgen haben, während die Ausführung der Rechts- 
sätze und die geistige Darlegung des Rechtsfalles einem anderen, viel höher stehenden Stande, 
dem Stande der Advokaten, zukommt. So ist es in Frankreich und in Italien. Auch in Eng- 
land unterscheidet man demgemäß zwei Arten von Rechtsanwälten, solicitors und barristers. 
In Deutschland hat sich dieser Unterschied nicht wieder entwickelt: die Rechtsanwälte über- 
nahmen sowohl die formelle Tätigkeit als auch die vergeistigte Darlegung der Sache, und so 
ist es bis heute geblieben; auch in den Rheinlanden hat sich das französische System nicht 
aufrechterhalten. Trotzdem sprechen für diese Unterscheidung wesentliche Gründe: denn wer 
die Befähigung hat, einen Rechtsstreit geistig zu beherrschen, der hat nicht auch die Befähigung 
zu jener aufopferungsvollen Pünktlichkeit, welche der mit so vielen Formen und Fristen durch- 
setzte Prozeßbetrieb verlangt. Bei uns kann dieser Mißstand nur dadurch ausgeglichen werden, 
daß der Rechtsanwalt einen guten Geschäftsmann als Bureauchef hat 7. 
Im übrigen gilt bei uns nach der Rechtsanwaltsordnung vom 1. Juli 1878 3 der Grundsatz, 
daß die Rechtsanwälte Personen sein müssen, welche die Befähigung für das Richteramt haben. 
Sodann herrscht bei uns der Grundsatz der Freiheit insofern, als nirgends ein numerus clausus 
besteht, auch nirgends die Zulassung eines Anwalts wegen Mangel an Bedürfnis verweigert 
werden darf: wer objektiv die gesetzlichen Erforderungen erfüllt, ist zuzulassen. Nur beim Reichs- 
gericht besteht eine Ausnahme: hier hängt es vom freien Ermessen des Präsidiums ab, ob ein 
Anwalt, der sonst die Voraussetzungen eines Rechtsanwalts hat, zugelassen wird oder nicht. 
Endlich gilt der Grundsatz der Verörtlichung: regelmäßig ist der Rechtsanwalt nur bei 
einem Gerichte zugelassen, und er muß bei diesem Gerichte auch seinen Wohnsitz nehmen. 
Der Grundsatz der Verörtlichung kommt insbesondere in allen Streitsachen in Betracht, 
wo der Anwaltszwang herrscht (oben S. 268 f.); hier muß die Partei durch einen Anwalt des 
Prozeßgerichts vertreten sein, dem sie nicht nur für einzelne Prozeßhandlungen, sondern für 
den ganzen Prozeß Vollmacht gibt; dementsprechend hält sich das Gericht nur an den An- 
walt und verkehrt nur mit ihm. 
§ 36. Die Anwälte üben einen Beruf, kein Gewerbe; wenn sie daher auch Vergütung 
beanspruchen und aus dieser Vergütung ihren Lebenserwerb schöpfen, so darf doch der Erwerb 
nicht als die Seele des Ganzen hewortreten: der Erwerb muß stets als das Untergeordnete 
gelten, als Kehrseite der Anwaltstätigkeit, deren Hauptzweck es sein muß, das Recht zu ver- 
wirklichen, dem Unrecht zu steuern und den Schwachen gegen den Unterdrücker, den Berechtigten 
gegen den Rechtsverletzer und Rechtsverächter zu schützen . Im übrigen haben die Rechts- 
anwälte Vergütungs(Honorar-ansprüche; sie können darüber auch mit den Parteien Verträge 
schließen; in Ermangelung gelten die gesetzlichen Gebührensätze. Eine Einklagung der Gebühren, 
1 Kohler, Verfahren des Hofgerichts Rottweil S. 60. 
: Über die gesetzgeberische Frage vol. Pacaud, Lenteurs et frais p. 260 f. In Frankreih 
hat man seinerzeit durch Gesetz von 1561 vergebens versucht, beide Berufe zu vereinigen (Recueil 
des anc. lois franc. XIV p. 112 f.). In Italien ist die Vereinigung beider Berufe möglich und 
scheint in der Gegenwart ziemlich häufig zu werden. 
: Sie ist in wenigen Punkten geändert durch Gesetz vom 22. 5. 1910. 
4* Zu den Pflichten des Anwalts gehört auch die loyale Betätigung. Mit Recht hat man 
wissentlich wahrheitswidrige Prozeßangaben des Anwalts ehrengerichtlich bestraft, Entscheidung 
des Ehrengerichtshofs VIII, 178. Der Lüge im Prozeß muß natürlich die Rechtsanwaltschaft fern- 
eiben.
	        
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