314 J. Kohler.
Ist diese Einteilung des Tatsachenmaterials nur eine zufällige und durchaus nicht durch-
greifende, so tritt noch ein weiterer Umstand hinzu, der die Sache verschiebt. Es können nämlich
bei Entstehung eines Rechts verschiedene positive und negative Umstände zusammenwirken; die
negativen können überwiegen, so daß das Recht nicht entsteht; möglich aber auch, daß diese
negativen Tatsachen nur scheinbar sind oder durch andere überwunden werden. Es ist nun be-
greiflich, daß der Kläger mehr auf die positiven Umstände sich bezichen wird und dic negativen
weniger ins Auge faßt; insbesondere dann, wenn er sie nur für scheinhaft hält. Ebenso begreif-
lich ist es, daß der Beklagte hauptsächlich diese negativen Umstände hervorheben wird. Aber
auch hier darf man nicht an eine durchgreifende Abgrenzung denken, sondern auch hier unterliegt
das Vorbringen beider Teile dem Gesetze der Loyalität, des Anstandes und der Wahrheitsliebe.
Man nennt solche negativ wirkende, d. h. das Entstehen des Rechts hemmende Tatsachen an-
spruchshindernde; so z. B. ist die Nebenabrede der Scheinhaftigkeit (Simulation) eine das Ent-
sichen des Rechts hindernde Tatsache: ein Scheinvertrag ist kein rechtlich erheblicher Vertrag,
und die Scheinhaftigkeit würde sofort zutage treten, wenn die Umstände, welche die Abrede
zum Scheinvertrag machen, mit der Abrede stets äußerlich verbunden wären; es kommt aber,
nicht bloß selten, sondern regelmäßig vor, daß diese Scheinabrede geheim bleibt und vom Haupt-
vertrag getrennt beurkundet wird, und so ist zwar juristisch nur eine Tatsache vorhanden:
der Scheinvertrag; tatsächlich aber zerfällt diese eine Tatsache in zwei Umstände: in eine ge-
wöhnliche Vertragserklärung und in die Scheinklausel. Es wäre nun natürlich im höchsten Grade
illoyal, wenn der Kläger einen Scheinvertrag als einen wirklichen vorbrächte, wenn er also die
Vertragserklärung anführle, die Scheinklausel unterdrückte.
Eine weitere Eigenart entsteht durch die Tatsache der gesetzlichen Vermutung; die Rechts-
ordnung kann erklären: ein jeder im Verkehr ist gerechtfertigt, auf Grund von Tatsache A an-
zunehmen, das die Tatsache A und B zusammen besteht, weil das Zusammensein von A
und B zur Regel des Lebens gehört. Wird dies für den Verkehr bestimmt, so kann es auch der
Richter annehmen. Hierher gehören insbesondere die zwei Vermutungen des §§ 891 und 1006:
der Eintrag ins Grundbuch gibt die Vermutung für das Eigentum am Grundstücke, der
Besitz gibt die Vermutung für das Eigentum an beweglichen Sachen 1. Aber auch dies gibt
dem Richter nur einen Anhalt; es ist nicht ein Zwangsgebot, und er muß auch alle Umstände
berücksichtigen, welche dagegen sprechen.
"5) Tatsachenstoff und Beweislast.
§55. Der Beweis war ursprünglich Gottesbeweis; man nahm an, daß nicht der Richter,
sondern die Gottheit im Falle der Tatsachenbestreitung die Entscheidung gebe 2. So entwickelte
sich das Gottesurteil, der Zweikampf, der Eid, der nichts anderes war als eine Selbstverfluchung,
welche eine Entscheidung der Gottheit herausforderte. In diesem Zustande finden wir den
Beweis in Deutschland und teilweise auch noch in Italien bis in das 12. und 13. Jahrhundert
hinein. Und zwar ist hier hauptsächlich maßgebend der Eid der einen oder anderen Partei; der
Zweikampf hatte sich mehr auf den Strafprozeß zurückgezogen und kam auch hier außer Ge-
brauch #. Der Eid der Partei konnte ein Eineid oder ein Eid mit Eidcshelfern sein. Letztere waren
ursprünglich Familiengenossen, welche mit der Partei die Verfluchung für den Fall der Un-
wahrheit aussprechen mußten; später konnten auch dritte Personen als Eideshelfer zugezogen
werden.
1 Auch die Vermutung des F 1362 B#B. gehört hierher. Über den Charakter der Ver-
mutung überhaupt vgal. Arch. f. civ. Prax. 96 S. 363
* Vgl. oben I S. 58 f.
* Wir finden ihn im Strafprozeß noch beispielsweise in Bologna 1250 und 1259 (Monum.
istorici pertinenti alle provincie della Romagna I1 p. 258, II p. 305) und 1251 in Viterbo
IV 130; vgl. Arch. f. Strafrecht 56 S. 1f. Spuren des richterlichen Zweikampfs finden sich
noch in der alten HofGecrichtsO. für Rottweil, vgl. Kohler, Verfahren v. Rottweil S. 66.
In manchen Städten, wie in Worms, bestanden alte Privilegien, daß die Bürger nicht zu kämpfen
brauchten, so von Otto IV. 1208, Friedrich II. 1220, Karl IV. 1348 (Boos, Wormser Urkundenb. 1
p. 87, II p. 257), Ratsprotokolle in Kohler und Koehne, Wormser Recht S. 43: keyn
unser burger mag den andern ansprechen zu kemppen.
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