Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Dritter Band. (3)

324 J. Kohler. 
des Zeugen über die Art, wie sich ein Verwundeter gebärdet hat. Der Zeuge hat eine solche 
Verpflichtung nicht; er hat nur über gemachte Wahrnehmungen zu berichten, welche allerdings 
auch innere Wahrnehmungen sein können, über welche er aber als Zeuge nicht verantwortlich 
ist. Wenn z. B. ein Arzt die Beobachtungen schildern soll, die er seinerzeit am Krankenbette 
gemacht hat, so macht er diese Aussage als Zeuge: in dieser Eigenschaft hat er für die Ge- 
diegenheit seiner Beobachtungen nicht einzustehen. Wenn er aber auf Grund jener Be- 
obachtungen jetzt eine Prüfung veranstalten und das Ergebnis dieser jetzigen Prüfung an- 
geben soll, so ist er Sachverständiger und ist dafür verantwortlich, daß seine jetzige Prüfung 
der gegebenen Daten eine gründliche ist. Wenn er früher den Kranken oberflächlich be- 
obachtet hat, kann dies eine Verletzung seiner ärztlichen Pflicht sein; mit seiner Verantwortlich- 
keit als Zeuge hat dies nichts zu tun. Schon aus diesem Fall ergibt sich, daß jemand zugleich 
als Zeuge und als Sachverständiger vemommen werden kann, wobei er dann im einen und 
anderen Fall verschiedene Verpflichtungen übernimmt und daher auch doppelt zu vereidigen ist. 
Im übrigen gilt folgender Unterschied: 
1. Der Zeuge unterliegt einem weit schärferen Zwang als der Sachverständige, denn 
dieser ist ersetzlich, der Zeuge nicht (§ 407 f. ZPO.); 
2. der Sachverständige kann abgelehnt werden (wie ein Richter), der Zeuge nicht (§ 406 
3PO.) . 
Zeugen und Sachverständige werden durch den Gerichtsschreiber (nicht durch die Partei) 
geladen, auf Grund des Beweisbeschlusses, d. h. des vom Gericht gefaßten und verkündeten 
Beschlusses, welcher sagt, welche Beweise und über welche Umstände diese erhoben werden 
sollen (Beweisthemata); das Beweisthema soll dem Zeugen und Sachverständigen bei der 
Ladung mitgeteilt werden (§5 377, 402 ZPO.). 
Ganz veraltet ist unser Institut des Parteieneides. Das einzig Richtige und 
Zweckentsprechende hatte schon das kanonische Recht entwickelt, nur daß es der Sache eine etwas 
schablonenhafte Wendung gab. Die Parteien haben sich über die Tatsachen zu erklären; sie 
können auch veranlaßt werden, ihre Angaben zu beschwören: solche Eide waren im kanonischen 
Rechte die Kalumnieneide und das juramentum de veritate dicenda. So sollte es auch heut- 
zutage Sache des Richters sein, von der einen oder anderen Partei Erklärungen über den Sach- 
verhalt zu verlangen und nach Befinden diese Erklärungen beschwören zu lassen. Eine solche 
Eidesaussage (man nennt sie auch zeugeneidliche Aussage der Parteien) kann für den Richter 
natürlich von großer Uüberzeugungskraft sein. 
Im englischen Rechte hat sich diese Parteieneinvermahme in der Kanzlergerichtsbarkeit 
entwickelt, ganz entsprechend dem kanonischen Rechte, und sie ist dann weiter ausgebildet worden?; 
und neuerdings ist es eines der Hauptverdienste der österreichischen 8P O., nachdem ich im „Prozeß 
als Rechtsverhältnis“ von neuem Anregungen dazu gegeben hatte, diesen Grundsatz ausgesprochen 
und ihm in §8§ 371 ff. einen deutlichen Ausdruck gegeben zu haben. Die österreichische Z PO. 
spricht vom „Beweis durch Vernehmung der Parteien“. Natürlich ist es Sache des Richters, 
die Vernehmung, auch die eidliche, vor dem Urteil vorzunehmen und dementsprechend das Urteil 
zu erlassen; so jetzt auch, allerdings mit einigen wenig förderlichen Anderungen, die ungarische 
ZP. (6 368 f.). Verweigert die Partei den Eid, so hat das Gericht zu erwägen, welche Be- 
deutung diesem Umstande beizumessen ist, wobei der Richter die Sachumstände, vor allem auch 
die Persönlichkeit der zum Eide gerufenen Partei, in Betracht ziehen soll. Überhaupt gilt 
auch hier die freie richterliche Beweisprüfung. 
Die deutsche 8PO. dagegen hat noch ein ganz veraltetes Verfahren beibehalten, welches 
aus einer Mischung verkehrter justinianischer Grundsätze mit veralteten Normen deutschen Rechts 
  
1 Gerade nach dieser Richtung ist es wichtig, zu entscheiden, ob ein sachverständiger Zeuge 
oder ein Sachverständiger in Frage steht, vgl. RG. 15. 11. 1904 Entsch. 59 S. 169. 
Von altersher konnte im Equity-Verfahren der Kläger eine eidliche Erklärung auf seine 
Behauptungen verlangen, und diese konnte durch Haft erzwungen werden, oder die Tatsache galt bei 
Nichterklärung als zugestanden; so ist es noch nach dem heutigen Recht im Interrogatory-Verfahren, 
welches bei gewissen Streitsachen ohne weiteres, bei anderen mit gerichtlicher Genehmigung statt- 
findet, Rules of the Supreme Court Act XXXI, 1 und 21. Vgl. Chitt y’'s Forms in Kings Bench 
(13. Ed.) p. 273. Ebenso hat sich das beeidigte Interrogatorienverfahren in Spanien erhalten.
	        
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