354 J. Kohler.
zu helfen. Die Germanen bezichtigten die Schöffen des falschen Urteils und forderten ihn zum
Zweikampf auf 1. Im römischen Recht veranlaßte man die Tätigkeit des Tribunen oder eines
interzessionsberechtigten Magistrats, und im Kaisertum rief man den Kaiser an. Im deutschen
Recht ging allmählich die Urteilsschelte in die Berufung über 2. Die Vereinigung deutschen
und römischen Rechts vollzog sich vor allem im kanonischen Gerichtsrechte und dem Gerichts-
rechte der italienischen Statuten 3, und aus ihm ist unser modernes Recht hervorgegangen.
Das Rechtsmittel geht, wie bereits ausgeführt, von dem Satze aus: die Entscheidungen
des ersten Richters sind unter einer auflösenden Bedingung gegeben; die auflösende Bedingung
tritt ein, wenn auf Grund eines Rechtsmittels eine neue Entscheidung des Obergerichts erfoldt,
welche die untergerichtliche Entscheidung abändert. Die Abänderung hat nicht etwa den
Charakter einer nachträglichen Zerstörung des vorhandenen Rechts: das alte Recht der unter-
gerichtlichen Eutscheidung löst sich auf kraft der eigenen auflösenden Bedingung: es löst sich
darum auf mit rückwirkender Kraft, und was auf Grund dieser ersten Entscheidung erlangt ist,
muß wieder rückgängig gemacht werden. So insbesondere, wenn infolge des ersten Urteils
eine Vollstreckung stattgesunden hat und dieses erste Urteil nun zur Auflösung kommt. Nur
durch die Rechtsfigur der Bedingung, und zwar der auflösenden Bedingung, läßt sich das ganze
Rechtsmittelsystem begreifen ".
Das Rechtsmittel macht geltend, daß das Gericht unrichtig entschieden hat; es ist daher
vor allem gegen das Endurteil möglich; es kann auch zur Geltung bringen, daß das Gericht
einen unrichtigen Beschluß erlassen hat. Das deutsche Recht von seinem Standpunkte aus ließ
die Urteilsschelte gegen jeden richterlichen Beschluß zu; denn ihm fehlte der feste Gedanke der
prozessualen Einheit (S. 303). Anders das römische Recht. Das Mittelalter hat sich dem
germanischen Recht (durch Vermittlung des kanonischen) angeschlossen 5; das neuzeitliche Recht
ist zum römischen Satze zurückgekehrt: die regelmäßigen Rechtsmittel (Berufung, Revision)
sind nur gegen das Endurteil zulässig. Doch gibt es Ausnahmen:
1. Das Zwischenurteil über eine sogenannte prozeßhindernde Einrede (Einwendung),
also vor allem, wenn es sich um die Zuständigkeit oder Prozeßfähigkeit handelt, ist der Rechts-
mittel sähig (§ 275 Z8PO.)0; ebenso
2. das Zwischenurteil, welches das Vorhandensein einer Schadensersatzpflicht festsetzt,
ohne ihre Höhe zu bezeichnen (§ 304 8PO.).
Die Rechtsmittelinstanz bildet ein neues Verfahren in dem gleichen Prozeß; daraus geht
hervor, daß das in der früheren Instanz Vorgetragence in der Rechtsmittelinstanz bestehen
bleibt; es braucht nur, soweit nötig, dem Oberrichter unterbreitet zu werden: dies geschieht
durch den Vortrag der Anwälte (§§ 526, 566 ZPO.).
zu einem Urteil, so kann dieses nur als Vorbehaltsurteil erfolgen, weil das Urteil höherer Instanz
möglicherweise alles umstoßen kann.
1 Indes hat schon im fränkischen Reichsrecht die Urteilsschelte (blasphematio judicii, so Cap.
missor. in Theod. villa datum 805 c. 8) einen Berufungscharakter; sie war verschieden von der
reclamatio ad regis sententiam, die auf Privileg beruhte; vgl. Seelmann, Rechtszug im alten
deutschen Recht S. 148 f.
: Sehr deutlich läßt sich die Entwicklung des Gedinges (= Urteilsschelte) zur Berufung im
15. Jahrh. in Bayern nachweisen.
* Uber Berufung im italienischen Stadtrechte vgl. Como 1231 a. 233 (Mon. bist. patr.
XVI p. 89), Rom 1363 1 52 u. a.
" Es ist daher eine ganz unrichtige Ausdrucksform, zu sagen: man sicht ein Urteil durch Rechts-
mittel an, — als ob es anfechtbar wäre. Man kann sagen: ein solches Urteil wird angegriffen, aber
nicht, es wird angefochten. Und nun gar die Verwirrung, wenn man zwischen dem nichtigen
Urteil und dem durch Rechtsmittel aufgehobenen Urteil nicht zu unterscheiden vermag! In dieser
Beziehung sind gegen meinen Prozeß als Rechtsverhältnis Einwendungen gemacht worden, auf
die ich keine Lust habe einzugehen.
* Die italienischen Stadtrechte suchten vielfach durch Unterliegensstrafe (Sukkumbenzpön)
die Berufung zu beschränken, z. B. Como 1231 a. 235 (Mon. hist. patr. XVI p. 89). Und so
viele spätere Rechte.
*Eigentümlich ist es allerdings, daß die Einwendung der rechtshängigen Sache prozeß-
hindernd ist, nicht auch die Einwendung der entschiedenen Sache; und dieselbe Unstimmigkeit
besteht bei dem Schiedsvertrag und dem darauf erfolgten Schiedsspruch: die Einwendung aus
dem Schiedsvertrag ist prozeßhindernd, die Einwendung aus dem Schiedsspruch nicht! RG.
20. ö. 1910 JW. 39 S. 71I.