366 J. Kohler.
8. Verwirklichungsprozeß,
Zwangsvollstreckungs= und Konkursverfahren.
I. Vollstreckungstitel und vollstreckbare Ausfertigung.
§ 922. Zwangsvollstreckung ist die zweite Aufgabe des Zivilprozesses. Es handelt sich
darum, das Recht gegen den widerspenstigen Willen durchzuführen, und zwar durch die Macht
des Staates; was durch Einwirkung auf die Person oder durch Eindringen in ihre Ver-
mögenssphäre geschehen kann. Die Vollstreckung erfolgt heutzutage nicht mehr blindlings: sie
erfolgt aber auch nicht erst, wie man lange Zeit als Regel aufstellte, auf Grund eines rechts-
kräftigen Urteils; sie erfolgt auf Grund eines vollstreckbaren Titels, d. h. eines
Rechtfertigungsgrundes, der für die Rechtsordnung als genügend erscheint, um auch auf die
Gefahr des Irrens hin mit Gewalt gegen den anderen vorzugehen 1.
Der vollstreckbare Titel ist eine Steigerung des Persönlichkeitsrechts, welches sonst nur
zur Klage, hier aber zur Vollstreckung befugt 2; aber zur Vollstreckung auf cigene Gefahr in der
Art, daß, wenn der Vollstreckungstitel später aufgehoben wird, der Vollstreckungskläger unter
Umständen für alle Schäden aufkommen mußs.
Die Gefahr des Irrens dürfen wir überhaupt niemals als eine überwiegende betrachten.
Die Lebensinteressen drängen so sehr nach Verwirklichung, daß wir eine mehr oder minder große
Wahrscheinlichkeit als genügend erachten müssen, um mit Zwangsverwirklichung vorzugehen.
Allerdings steht dem wiederum der Satz zur Seite: tut man dies aus Irrtum, dann hat man
die Folgen zu gewärtigen, und die Folgen sind: volle Schadensersatzpflicht gegen den, der unter
der Zwangsvollstreckung gelitten hat (§§ 717, 945 Z PO.; vgl. §§ 302, 600 ZPO., 8 231 BGB.).
Das ist das modeme System, das einzige, das unseren Bedürfnissen entspricht. Die Z8PO.
macht zu vollstreckkaren Titeln außer den rechtskräftigen Urteilen einmal solche Urteile,
die für vorläufig vollstreckbar erklärt werden: es sind dies Urteile, die
noch nicht rechtskräftig sind, bei denen aber eine Wahrscheinlichkeit besteht, daß es bei ihnen
verbleiben wird, oder bei denen sonstige Interessen für die Beschleunigung sprechen, oder bei
denen die Gefahr des Irrtums durch besondere Mittel, namentlich durch Sicherheitsleistung be-
gütigt wird.
Es gibt Urteile, die von Amts wegen für vorläufig vollstreckbar zu erklären sind,
auch ohne Antrag. So das Urteil auf fnerkenntnis des Schuldners hin; so das Läute-
rungsurteil, welches ein rechtskräftiges bedingtes Eidesurteil nach Leistung oder Ver-
weigerung des Eides zu einem unbedingten macht; der Grund ist offensichtlich: hier ist kaum
möglich, jedenfalls wenig denkbar, daß das Urteil fehl greift. Eine andere Erwägung trifft beim
zweiten oder folgenden Versäumnisurteil zun ist dieses ein strenges, so ergibt sich die
Vollstreckbarkeit schon daraus, daß hier ein Rechtsmittel fast ganz ausgeschlossen ist, jeden-
1 Der vollstreckbare Titel kann auch zivilrechtliche Bedeutung haben: 1. er gewährt das Recht
der Kündigung einer Gesellschaft oder Gemeinschaft (§§ 725, 761 BGB., 5 136 HGB., # 66
Genoss.-Ges.); 2. der Anspruch, für den ein vollstreckbarer Titel vorhanden ist, verjährt in 30 Jahren,
g 218 BGB. (natürlich auch ein rechtskräftiges Endurteil, nicht aber ein Zwischenurteil nach § 304
BPO.), RG. 15. 4. 1907 Entsch. 66 S. 10. Bemerkenswert ist 3., daß ein vollstreckbarer Titel
nicht nur zur Vollstreckung, sondern auch zur Vorbereitung der Vollstreckung durch Gläubiger-
anfechtung den nötigen Anhalt gewähr, 2 Ansechtungsges.
* Vgl. Dernburg-Kohler VI S.
* Man hat hierüber tieffinnige WG(J angestellt, wie es denn möglich sein könne,
daß auf der einen Seite eine Vollstreckung gerechtfertigt und auf der anderen Seite wieder
ungerechtfertigt sei; denn wenn sie gerechtfertigt ist, warum soll sie eine Entschädigungspflicht
bewirken? Wenn sie ungerechtfertigt ist, warum sügen sich die Prozeßorgane? Vor allem haben
darüber Geib und neuerdings Goldschmidt geschrieben. Dies beruht auf dem unrichtigen
Axiom, als ob eine Entschädigungspflicht ein (subjektives) Unrecht voraussetze; im Gegenteil gibt
die Rechtsordnung in einer Reihe von Fällen die Besugnis, zu wirken unter der sofortigen oder
eventuellen Verpflichtung zur Entschädigung.