408 Emil Dorner.
2. Ob die einzelnen Angelegenheiten der streitigen oder der freiwilligen Gerichtsbarkeit
zugehören, ist in den Gesetzen teilweise schon durch die Stelle, an der dieselben — sei es hinsicht-
lich der sachlichen Zuständigkeit, sei es hinsichtlich des Verfahrens — geregelt sind, ausgedrückt:
Was in das GW., die ZPO. und KonkO. einbezogen ist, gehört damit von selbst zur streitigen,
was in den Gesetzen über freiwillige Gerichtsbarkeit behandelt ist, gehört zur freiwilligen Gerichts-
barkeit. Hiervon abgesehen sind Angclegenheiten, welche das Gesetz dem „Vormundschafts-
gericht", dem „Nachlaßgericht“ oder dem „Registergericht“ überträgt, eben hierdurch als solche
der freiwilligen Gerichtsbarkeit gekennzeichnet. Soweit diese Anhaltspunkte versagen, ist der
Wille des Gesetzes im Wege der Auslegung zu ermitteln und hierbei im Zweifel auf den (rechts-
bewährenden oder rechtsgestaltenden) Charakter des behördlichen Einschreitens (oben 1.) im
Einzelfalle zurückzugehen (vgl. hierzu Dorner S. 3—0).
3. Als Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit im Sinne des geltenden Rechts
sind demgemäß insbesondere anzusehen: die Verrichtungen der Vormundschaftsgerichte, die
gerichtliche Mitwirkung bei der Annahme an Kindes Statt und bei deren Aufhebung, die auf
die Standesamtsführung bezüglichen Geschäfte der Standesämter und der Gerichte, die Ver-
richtungen der Nachlaßgerichte, diejenigen der Grundbuchämter, die den Gerichten zukommende
Führung öffentlicher Register (Handels-, Genossenschafts-, Muster-, Vereins-, Güterrechts-
und Schiffsregister), sowie sonstige in Handels-, Vereinssachen u. dgl. den Gerichten übertragene
Geschäfte, die Aufnahme öffentlicher (insbesondere gerichtlicher und notarieller) Urkunden im
Dienste Privater, die Geschäfte der nach Landesrecht für die öffentliche Hinterlegung bestellten
Behörden, die amtliche Vornahme öffentlicher Versteigerungen, die amtliche Schätzung des Wertes
von Vermögensgegenständen, soweit dieselbe außerhalb des Prozesses im Interesse privater
Rechtsverhältnisse erfolgt, die landesrechtlich den Gerichten in Lehens-, Familienfideikommiß-
(Stammguts-) und Stiftungssachen übertragenen Verrichtungen, endlich eine Reihe einzelner
Angelegenheiten verschiedener Art, die durch Reichsrecht (so BGB. F 132 Abs. 2 und §& 176;
S 1141, 1192, 1200; FGG. §s 163, 164) oder durch Landesrecht den Gerichten über-
wiesen sind.
& 2. Geschichte. 1. Imrömischen Recht finden sich schon in älterer Zeit Anfänge
freiwilliger Gerichtsbarkeit: so die obrigkeitliche Bestellung und Entlassung der tutores und
curatores, das bonis interdicere bei prodigi und die obrigkeitliche Mitwirkung bei Abschluß
von Rechtsgeschäften im Wege der in jure cessio, die den verschiedensten rechtsgeschäftlichen
Zwecken (Eigentumsübertragung, Manumission, Emanzipation, Adoption) diente; auf letztere
Fälle bezieht sich die den Institutionen Marcians entnommene Stelle 1I. 2 pr. de off. proc. et
leg. I. 16, die einzige in den römischen Quellen, die den Ausdruck „#urisdietio voluntaria“ ent-
hält. In der Kaiserzeit erweiterte sich, abgesehen von dem vielfachen unmittelbaren Eingreifen
des princeps selbst, der Kreis der hierher gehörigen Fälle (Insinuation großer Schenkungen;
pigmus publicum; obrigkeitliche Mitwirkung bei Verwaltung der Vormundschaft, insbesondere
bei Veräusserung von Mündelgrundstücken; testamentum apud acta conditum; Bestätigung
der Vergleiche über noch nicht fällige Alimente); an die Stelle der in jure cessio trat der Ab-
schluß vor Gericht. Gleichwohl blieb auch jetzt der Umfang der Geschäfte der freiwilligen Gerichts-
barkeit ein im allgemeinen eng begrenzter; insbesondere blieb dem römischen Recht der Begriff
und die Beweiskraft öffentlicher Urkunden fremd. Nicht zur freiwilligen Gerichtsbarkeit zählt
das Verfahren extra ordinem und insbesondere nicht (a. M. Nußbaum S. 5) die prätorische
in integrum restitutio.
2. In Deutschland nahm die freiwillige Gerichtsbarkeit cine weit reichere Ent-
wicklung. Zu den schon dem rezipierten römischen Recht bekannten Angelegenheiten der frei-
willigen Gerichtsbarkeit traten hinzu: die deutschrechtliche, als Form der Übereignung von Grund-
stücken vielfach aufrechterhaltene, wenngleich nicht gemeines Recht gewordene gerichtliche Auf-
lassung, woraus die Einrichtung der behördlich ge führten Grundbücher erwuchs; das Notariat
als besondere, mit öffentlichem Glauben ausgestattete, zur Aufnahme öffentlicher Urkunden
berufene Beamtung; die teils auf Antrag, teils von Amts wegen eintretende gerichtliche Für-
sorge für den Nachlaß (Siegelung, Erbverzeichnung); endlich die Einrichtung der Handelsregister.
Das ganze hierdurch umschriebene Rechtsgebiet wurde teils als iurisdictio voluntaria, teils auch