Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Dritter Band. (3)

4 Otto v. Gierke. 
nur als Abarten bürgerlicher Rechtsinstitute. Manche von ihnen, wie z. B. die Prokura, die 
offene Handelsgesellschaft oder der Handelskauf, empfangen überhaupt erst durch komplemen- 
täre Vorschriften des bürgerlichen Rechts ihre Vollendung. Andere, wie z. B. die Firma, 
die Aktiengesellschaft oder das Kommissionsgeschäft, sind in sich abgerundeter, bleiben aber 
immerhin in einzelnen Bezichungen auf die Anlehnung an das bürgerliche Recht (Namenrecht, 
Vereinsrecht, Recht des Werkvertrages) verwiesen. 
Gleichwohl hat das Handelsrecht den Charakter eines Sonderrechts gewahrt. Es 
ist seiner Hauptmasse nach in einem besonderen Gesetzbuch kodifiziert und erfreut sich abge- 
sonderter wissenschaftlicher Behandlung und Lehre. Diese äußere Selbständigkeit aber wird 
durch eine innere Einheit getragen. Denn auch wo das Handelsrecht scheinbar sich 
aus Bruchstücken zusammensetzt, waltet ein gemeinsamer Geist, der sie zum Ganzen verbindet. 
Alle Abwandlungen des bürgerlichen Rechts zeigen eine gleichartige Grundfärbung. Diese 
durchgehende Eigenart ist geschichtlich aus den Anschauungen und Bedürfnissen des Kauf- 
mannsstandes erwachsen und hat insoweit, als sie den Bedürfnissen anderer Lebenskreise gleich- 
falls entsprach oder zu entsprechen schien, die allmähliche Erweiterung des Geltungsbereichs 
des Handelsrechts veranlaßt. Die meisten charakteristischen Züge des Handelsrechts erklären 
sich aus der dem Handelsverkehr innewohnenden Tendenz, sich möglichst frei und doch in mög- 
lichst sicheren Bahnen zu bewegen, sich mit möglichst geringem Aufwande an Zeit und Kosten 
abzuwickeln und sich in Massenwirkungen zu entfalten. So die Abneigung gegen Beschrän- 
kungen der Vertragsfreiheit; die Abstreifung von Formerfordernissen unter gleichzeitiger Be- 
günstigung besonderer Formalinstitute; die Strenge der Verpflichtung und der Haftung; die 
Forderung erhöhter Sorgfalt; die Vermutung für Entgeltlichkeit jeder Leistung; die Beförderung 
der schleunigen und glatten Erledigung von Anständen; die Steigerung des Publizitätsprinzips 
und der Wirkungen des guten Glaubens; die Ausbildung fester und gleichförmiger Geschäfts- 
typen und deren Bindung durch die Verkehrssitte. Daneben empfängt das Handelsrecht sein 
eigentümliches Gepräge durch die personenrechtlichen Gebilde, die dem Bestreben nach Schaffung 
tragfähiger Organisationen für den Geschäftbetrieb im ganzen entsprungen sind. Hier 
wurzeln die Besonderheiten der handelsrechtlichen Personenverbindungen, des Vertreter- und 
Gehilfenrechts, des Gesellschafts- und Genossenschaftsrechts. Im Zusammenhange hiermit 
endlich zieht sich durch das Handelsrecht die Tendenz, das Geschäft zu verselbständigen und 
die geschäftliche Sphäre von der Privatsphäre ihres Trägers genau zu sondern. Manche 
handelsrechtlichen Institute, wie Firma und Handelsbücher, sind vorzugsweise auf dieses Ziel 
gerichtet. 
Diese innerlich begründete Eigenart des Handelsrechts rechtfertigt den Fortbestand 
seines Sonderdaseins. Der Wunsch nach Beseitigung des Zwiespalts zwischen Handelsrecht 
und bürgerlichem Recht ist oft laut geworden. Allein entweder müßte der Handel auf eine 
ihm kongeniale Rechtsordnung verzichten oder das bürgerliche Leben sich einer für die Gesamt- 
heit unpassenden und sozial bedenklichen Rechtsordnung unterwerfen. Eines schickt sich nicht 
für alle. Der Grundsatz der Rechtsgleichheit fordert nicht doktrinäre Gleichmacherei. Vielfach 
hat freilich das Handelsrecht, wie oft gesagt ist, als Pionier dem allgemeinen Fortschritt der 
Rechtsentwicklung vorgearbeitet. Gerade in neuester Zeit ist das deutsche bürgerliche Gesetz- 
buch in der Verpflanzung ehemals handelsrechtlicher Sätze in das bürgerliche Recht ziemlich 
weit gegangen. Allein, auch das Handelsrecht steht nicht still und bringt immer wieder Neu- 
bildungen heror, zu deren Verallgemeinerung die Zeit nicht reif ist. So hat denn auch die 
Gesetzgebung bisher nur in der Schweiz die sonderrechtliche Stellung des Handelsrechts formell 
beseitigt, ohne übrigens die materielle Besonderheit der handelsrechtlichen Institute auszutilgen. 
Für Deutschland ist auf absehbare Zeit hinaus durch den gleichzeitigen Erlaß eines neuen Handels- 
gesetzbuches neben dem bürgerlichen Gesetzbuch der Fortbestand eines auch formell als Sonder- 
recht anerkannten Handelsrechts gesichert. 
Literatur: Molengraaff, het noodzakelik of wenschelijk, tuschen handelsrecht 
en burgerlik recht te onderscheiden en ze tot voorwerpen van afzonderlilk wettelijke rege- 
ling te maken?m Amsterdam 1883; llet verkeersrecht in wetgeving en wetenschap, Haar- 
lem 1885. — G. Cohn, Warum hat und braucht der Handel ein besonderes Recht? Drei rechts- 
wissenschaftliche Vorträge, Heidelberg 1888, II. — Nießer, Der Einfluß handelsrechtlicher
	        
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