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tatigkeit (s. oben § 12); er — nicht der Kaiser — nimmt nach dem Wortlaut der Verfassung
dem Reichstag gegenüber die Stellung ein, welche in dem konstitutionellen System der Re-
gierung zukommts; er beschließt über eine Menge einzeln bestimmter Regierungs- und Ver-
waltungsangelegenheiten (Kriegserklärung, Reichsexekution, Auflösung des Reichstages, Decharge
der Reichsfinanzverwaltung, Angelegenheiten der Zölle und Reichssteuern, des Münz= und
Bankwesens, Pensionierung der Reichsbeamten); ihm steht bei der Besetzung gewisser wichtiger
Beamtenstellen (z. B. der Mitglieder des Reichsgerichts) durch den Kaiser ein Vorschlags= oder
Wahlrecht zu. Drittens mangeln dem Bundesrate auch nicht Kompetenzen richterlicher
Natur. Der Bundesrat entscheidet Streitigkeiten zwischen Reich und Einzelstaaten über die
Erfüllung verfassungsmäßiger Pflichten der letzteren gegen das erstere (Art. 7 Nr. 3, 19 RV.;
vgl. oben § 12); fermer Streitigkeiten nicht privatrechtlicher Natur zwischen den Einzelstaaten
(Art. 76 Abs. 1 RV.) und Streitigkeiten wegen behaupteter Justizverweigerung (Art. 77 NV.).
Der Bundesrat hat schließlich, gleichfalls ein Richteramt im weiteren Sinne des Wortes, Ver-
fassungsstreitigkeiten in denjenigen Einzelstaaten, deren Verfassung eine Behörde zur Entscheidung
solcher Streitigkeiten nicht kennt, gütlich auszugleichen oder, wenn das nicht gelingt, im Wege
der Reichsgesetzgebung zur Erledigung zu bringen (Art. 76 Abs. 2, RV.).
Für die gesamte Kompetenz und Tätigkeit des Bundesrates gilt: 1. Der Bundesrat ist nicht
sowohl selbst, wie die beiden anderen obersten Reichsorgane, Kaiser und Reichstag, ein schlechthin
unverantwortliches Organ, für dessen Beschlüsse weder er selbst noch ein Dritter ver-
antwortlich gemacht werden kann. Insbesondere trifft den Reichskanzler eine solche Ver-
antwortlichkeit nicht (s. unten S. 112). Inwieweit die einzelnen Bundesratsbevollmächtigten
ihren Regierungen für die Befolgung und diese Regierungen weiterhin den Landtagen für den
Inhalt der Instruktionen Rechenschaft schulden, ist eine Sache für sich (uvgl. oben S. 97). 2. Der
Bundesrat darf seine Beschlüsse nie selbst zur Ausführung bringen; ihm mangelt die exekutive
Gewalt i. e. S. Im allgemeinen „werden die zur Ausführung der Beschlüsse des Bundesrates
erforderlichen Verfügungen vom Reichskanzler getroffen“ (8 27 revid. Geschäftsord. f. d. Bundes-
rat); diese Verfügungen werden sich häufig auf Bekanntmachung der Bundesratsbeschlüsse oder
Mitteilung derselben an die Landesregierungen beschränken, welchen letzteren dann der weitere
Vollzug obliegt (so namentlich bei bundesrätlichen Verwaltungsvorschriften: Art. 7 Nr. 2 R V.).
In einzelnen Fällen überträgt die RV. die Durchführung der Bundesratsbeschlüsse dem Kaiser
(z. B. bei Reichsexekutionen: Art. 19 RV.).
Der Bundesrat ist nach der Verfassung, Art. 12, ein periodisch tagendes Kollegium,
dessen Berufung, Vertagung und Schließung dem Kaiser zusteht, so zwar, daß letzterer den
Bundesrat mindestens alljährlich einmal, femer stets auf Verlangen eines Drittels der Stimmen-
zahl, und soweit und solange der Reichstag versammelt werden will, berufen muß (Art. 13, 14).
Tatsächlich ist der Bundesrat längst zu einer permanenten Versammlung geworden, welche
niemals mehr geschlossen, sonderm lediglich von Zeit zu Zeit vertagt wird (letzte formelle Be-
rufung durch kaiserl. Verordn. vom 21. August 1883; Rl. S. 285). Die Verhandlungen
des Bundesrates sind im Gegensatz zu denen des Reichstages (Art. 22 RV.) nicht öffentlich.
„Der Vorsitz im Bundesrate und die Leitung der Geschäfte steht denn Reichskanzler
zu, welcher vom Kaiser zu ernennen ist“: Art. 15 Abs. 1 RV. Angesichts dieser Bestimmung
ist die Frage aufgeworfen worden, ob mit der Übertragung des Bundesratspräsidiums an den
Reichskanzler nicht der Grundsatz des Art. 6 RV., wonach der Bundesrat aus den „Vertretern
der Mitglieder des Bundes“, d. h. den Bevollmächtigten der Einzelstaaten besteht, durchbrochen.
sei, denn der Reichskanzler als solcher sei keines Einzelstaates Vertreter, sondern des Kaisers
Beamter. Ungeachtet nun kein Geringerer als Bismarck (Reichstagsrede vom 13. März
1877) die Meinung vertrat, daß der Reichskanzler nach der Verfassung zwar Vorsitzender, aber
nicht Mitglied des Bundesrates sein müsse, ist doch daran festzuhalten, daß die Regel des Art. 6
NRV. durch Art. 15 keine Ausnahme erleidet. Denn wenn die RV. es auch nicht sagt, so setzt
sie doch voraus, daß der Reichskanzler nicht nur Vorsitzender, sondern auch stimmberechtigtes
Mitglied des Bundesrates, daß er Bundesratsbevollmächtigter sein muß, und daß
der ihn in den Bundesrat entsendende Einzelstaat kein anderer sein kann als die „Präsidial-
macht“, Preußen. Daß die Stellung des Reichskanzlers im Bundesrate kein „Vorsitz ohne
Mitgliedschaft“ ist, ergibt sich aus Art. 15 Abs. 2 RV., denn wenn es dort heißt, daß der Kanzler
sich in der Führung des Vorsitzes „durch jedes andere Mitglied des Bundesrates ver-
möge schriftlicher Substitution vertreten lassen“ kann, so erhellt, daß nach der Absicht der Ver-