Deutsches Staatsrecht. 99
fassung der Kanzler Mitglied des Bundesrates sein soll. Daß weiterhin die RV. den Vorsitzen-
den des Bundesrates gerade als preußischen Bevollmächtigten und nicht als Vertreter
eines beliebigen anderen Einzelstaates voraussetzt, folgt daraus, daß der Vorsitz im Bundesrate
ein Ausfluß der Präsidialstellung Preußens ist 1, somit ein Recht, welches nicht anders als durch
einen preußischen Bevollmächtigten ausgeübt werden kann, — wie denn nach dem preußischen
Entwurf der nordd. BV. vom 15. Dezember 1866 das Amt des Bundeskanzlers sich sogar in
der Stellung eines dem Bundesrate präsidierenden preußischen Bevollmächtigten, eines „Prä-
sidialgesandten“ erschöpfen sollte (s. unten S. 110). Der Sinn der NV. ist also der, daß der
Bevollmächtigte des „Präsidiums“ — Art. 5 Abs. 2, 7, 8, 37 RV. —, d. h. Preußens, kein
anderer sein kann als der verfassungsmäßige Vorsitzende des Bundesrates, der Reichskanzler.
Es muß sonach als verfassungsmäßige Pflicht des Kaisers und Königs von Preußen bezeichnet
werden, demjenigen, den er als Kaiser zum Reichskanzler und Bundesratspräsidenten ermennt,
zugleich die Führung der Präsidialstimme, die Vollmacht Preußens im Bundesrate zu über-
tragen.
Die Substitutionsbefugnis des Reichskanzlers — Abs. 2 des Art. 15 — ist durch ein ver-
tragsmäßiges Sonderrecht (oben S. 77, 78) Bayems beschränkt. Im Falle der „Verhinde-
rung Preußens“, d. h. dann, wenn der Kanzler sich einen der preußischen Bundesratsmitglieder
nicht substitutieren kann oder will, soll nämlich der Vertreter Bayerns das nächste Anrecht auf
den Vorsitz haben: bayer. Schlußprot. vom 23. Neovmber 1870 Nr. IX.
Das Recht, Anträge im Bundesrate zu stellen, hat nach Art. 7 Abs. 2 RV. jedes
„Bundesglied“, d. h. jeder Einzelstaat und (seit dem Gesetz vom 31. Mai 1911, oben S. 96)
Elsaß--Lothringen. Diese Bestimmung sagt nicht, wie vielfach angenommen wird, daß dieses
Recht nur den Bundesgliedern zusteht, sondern, daß es ihnen zusteht, und daß, wie sie weiter-
hin ausdrücklich vorschreibt, das Präsidium verpflichtet ist, die einzelstaatlichen Vorschläge der
Beratung zu übergeben. Wer außer den Bundesgliedern sonst noch befugt ist, dem Bundes-
rate Anträge zu unterbreiten, sagt Art. 7 Abs. 2 nicht. Auf Grund eines unbestreitbar vor-
handenen Gewohnheitsrechtes muß der Bundesrat sich auch mit solchen Vorlagen befassen,
welche sein Vorsitzender, der Reichskanzler, sei es aus eigener Initiative, sei es im Auftrage
des Kaisers, einbringt. Gegenwärtig gelangen weitaus die meisten Entwürfe zu Reichsgesetzen
und verordnungen auf dem Wege der kaiserlichen Jnitiative, als „Präsidialanträge“, welche
der Reichskanzler im Auftrage des Kaisers stellt, an den Bundesrat. Wenn diese Präsidial-
anträge geschäftsordnungsmäßig als Anträge Preußens behandelt werden, so liegt hierin, wie
Triepel, Unitarismus und Föderalismus 63 mit Recht bemerkt, „eine von föderalistischer
Gewohnheit diktierte Fiktion“ 2.
Eine Mindestzahl anwesender Bevollmächtigter für die Beschlußfähigkeit des
Bundesrats schreibt die RV. nicht vor; der Bundesrat ist also stets beschlußfähig. Der Satz,
daß nichtinstruierte Stimmen nicht gezählt werden (Art. 7 Abs. 3), hat den Sinn, daß die von
ihm (einerlei, ob im Einklang oder im Widerspruch mit der Wahrheit) behauptete Instruktions-
losigkeit eines Bevollmächtigten einzig die Nichtberücksichtigung seiner Stimme, nicht aber den
Anspruch auf Verschiebung der Abstimmung zur Folge hat. Damit ist einer sonst möglichen
Verschleppungspolitik einzelner Regierungen der Boden entzogen. An Abstimmungen über
solche Angelegenheiten, hinsichtlich deren Exemtionen einzelner Staaten bestehen (§ 13, II),
nehmen die eximierten, reservatberechtigten Staaten nicht teil (Sinn des Art. 7 Abs. 4), so daß
z. B. Bayern, Württemberg und Baden nicht mitstimmen, wenn über eine Abänderung der
Reichs-Biersteuer, von der sie eximiert sind, Beschluß gefaßt werden soll.
Der Bundesrat faßt seine Beschlüsse mit einfacher Stimmenmehrheit, RV. Art. 7 Abf. 3.
Bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Präsidiums, d. h. Preußens, den Ausschlag.
Hierbei ist zu beachten, daß die elsaß-lothringischen Stimmen nicht gezählt werden, „wenn die
: Vgl. auch Schlußprotokoll mit Bayern vom 23. November 1870 (oben S. 61) Ziff. IX:
„Der k. preuß. Bevollmächtigte erkannte es als ein Recht der bayerischen Regierung an, daß ihr
Vertreter äm Falle der Verhinderung Preußens den Vorsitz im Bundes-
rate führe.“
„ An der abweichenden Ansicht der vorigen Auflage (Bd. 2 S. 543 das.) konnte nicht fest-
gehalten werden.
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